Gastkommentar: Schluss mit nationalen Alleingängen in Europa!
Europa steht unter Druck. Geopolitische Spannungen nehmen zu. Wirtschaftliche Unsicherheit wächst. Die USA setzen Handelspolitik als Machtinstrument ein, und China investiert strategisch in Zukunftstechnologien – Europa verliert an Tempo und Einfluss.
Und obwohl wir um all diese Probleme wissen, fehlt es uns an Entschlossenheit, diese zu lösen. Uns lähmen nationale Alleingänge und regulatorische Zersplitterung. Wenn Europa nicht selbst gestalten will, wird es gestaltet werden – von anderen.
Es ist meine Überzeugung: Europa muss jetzt handeln – dringender denn je –, und zwar entschlossen, strategisch und gemeinsam.
1. Europa braucht einen funktionierenden Binnenmarkt
Die Europäische Union ist mit 451 Millionen Menschen ein globales Schwergewicht und stellt einen der größten Binnenmärkte der Welt. Doch fragmentierte Regulierungen verhindern die Entfaltung dieses Potenzials. Als Unternehmen erleben wir täglich, wie nationale Sonderwege europäische Innovationskraft hemmen.
Ein Beispiel: In der EU dauert es unterschiedlich lange, bis ein zugelassenes Arzneimittel bei den Patienten ankommt. In Deutschland dauert das im Schnitt 128 Tage, in Portugal bis zu 840 Tage. Der Grund: unterschiedliche regulatorische Verfahren und Erstattungssysteme. Für Pharmaunternehmen ist das ineffizient und kostspielig – für Patienten ein Risiko mit potenziell tödlichen Folgen.
Wir brauchen also einheitliche Standards, zentrale Verfahren und digitale Schnittstellen – kurz: einen Binnenmarkt, der funktioniert.
Funktionieren wird dieser allerdings nur, wenn Brüssel enger mit der Industrie zusammenarbeitet und seine Maßnahmen besser mit uns Unternehmen abstimmt.
Nur so kann Europa seine Rolle als globaler Gestalter behaupten, anstatt zum Getriebenen zu werden.
2. Europa muss massiv in Schlüsseltechnologien investieren
Der globale Wettlauf um Schlüsseltechnologien ist in vollem Gange. Die USA mobilisieren 500 Milliarden Dollar für das Projekt „Stargate“, um ihre KI-Infrastruktur auszubauen. China setzt mit Deepseek neue Maßstäbe. Solche Beispiele zeigen, wie gezielte Industriepolitik funktioniert: schnell, strategisch, entschlossen.
Dabei geht es nicht nur um Technologie, sondern auch um geopolitische Gestaltungsmacht. Wer bei KI, Biotechnologie und Halbleitern vorn liegt, setzt die Standards von morgen.
Ohne eine gemeinsame Strategie besteht die Gefahr, dass die technologische Souveränität Europas weiter schwindet. Deshalb brauchen wir in Europa jetzt entschlossene Investitionen. „InvestAI“, eine Initiative zur Mobilisierung von 200 Milliarden Euro für KI-Investitionen in Europa, ist ein guter Anfang. Doch auf Ankündigungen müssen auch endlich Taten folgen – und zwar europaweit.
3. Europa muss seine Stärken besser einsetzen
Die gute Nachricht: Europa hat mehr zu bieten, als es sich oft selbst zutraut. Immer mehr Investoren wählen Europa als ein Ziel für ihr Kapital und Investitionen. Sie schätzen nicht nur die Sicherheit und Stabilität, die unsere Demokratie bietet, sondern auch das klare Bekenntnis zum Freihandel – ein Wert, der in der aktuellen Weltordnung zunehmend an Bedeutung gewinnt.
Darüber hinaus verfügt Europa über exzellente Universitäten und Forschungseinrichtungen – ein starkes Zentrum für Grundlagenforschung. Diese Vorteile dürfen wir nicht leichtfertig verspielen: Wir müssen sie nutzen und weiter ausbauen.
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In dieser entscheidenden Phase hat die neue Bundesregierung ein wirtschaftspolitisches Wachstumsprogramm angekündigt. Ein zentrales Vorhaben: die spürbare Entlastung von Dokumentations-, Berichts- und Meldepflichten. Die Regierung hat verstanden, was die Industrie für die Wettbewerbsfähigkeit und das Wachstum in Deutschland leistet.
Weniger Bürokratie ist gut. Wir brauchen aber vor allem intelligentere Regulierungen: ergebnisorientiert, flexibel und risikobasiert. Das allein reicht jedoch nicht.
Wir müssen wieder anpackender werden. Machen statt zögern. Mut statt Bedenken. Die Politik sollte das vorleben und die richtigen Weichen stellen. Dann werden die Unternehmen liefern, da bin ich mir sicher.
Mit unserem Hauptsitz in Darmstadt ist Merck tief in Europa verwurzelt. Wir wollen auch in Zukunft hier und an anderen europäischen Standorten forschen, produzieren und investieren. Dafür braucht es Rahmenbedingungen, die Innovation ermöglichen, nicht verhindern. Bundesweit und europaweit.
Ein vereintes, modernes Europa kann im globalen Wettbewerb bestehen – wenn es den Mut hat, sich neu zu erfinden. Wir haben alles, was wir brauchen – nur nicht mehr ewig Zeit. Legen wir endlich los!
Die Autorin: Belén Garijo ist Vorsitzende der Geschäftsleitung von Merck