Gastkommentar: Ungleichheit ist nicht Frevel, sondern Antriebsfeder


Mieten ist im Vergleich zum Kaufen in Deutschland zu attraktiv, sagt Marcus Schreiber.
Vor wenigen Wochen wurde im täglichen Briefing dieser Zeitung der Artikel zum „World Wealth Report“ angekündigt. Der schwer betroffene Autor schrieb, „es falle ihm nichts mehr ein“, wenn er lese, dass etwa 2000 Menschen in Deutschland 20 Prozent des Gesamtvermögens besitzen. Für mich war das ein Brutus-Moment. Wenn schon das Flaggschiff des deutschen Wirtschaftsjournalismus so ein Narrativ wiederkäut, kann ich für alle Lateiner und Asterix-Fans nur sagen: „Tu quoque Handelsblatt, tu quoque“. Gott sei Dank schätzt das Handelsblatt vielstimmige Diskussionen und gönnt mir diese Kolumne.
Ich habe nie verstanden, warum jemand in Brandenburg ärmer wird, wenn sich das Aktiendepot eines wohlhabenden Starnbergers verdoppelt. Die Selbstverständlichkeit, mit der Ungleichheit mit Ungerechtigkeit gleichgesetzt wird und als kausal für Armut gesehen wird, ist mir ein Rätsel. Nie war die Gleichheit in Deutschland größer als nach dem Zweiten Weltkrieg oder im Osten beim Zusammenbruch der DDR. Bei Banken-, Euro- und Ukrainekrise, als das Vermögen der Reichen schrumpfte, ging es den wirklich Armen auf der Welt richtig dreckig.
Um zu den 2000 Superreichen in Deutschland zu gehören, muss jemand ein sehr erfolgreiches Unternehmen gegründet haben. Eine einfache und provokante Frage: Ist das Problem in diesem Land, dass in den letzten 50 Jahren zu viele oder zu wenig SAPs gegründet wurden? Ja, ein solches Unternehmen schafft ein paar Superreiche, aber auch Hunderttausende gut bezahlte Arbeitsplätze, sorgt für erheblich höhere Steuereinnahmen, aber das Medianeinkommen und damit die definierte Armut nimmt zu.
Wenn drei Generationen später das Vermögen der Gründer auf dreißig Köpfe verteilt ist, der Staat dreimal 30 Prozent Erbschaftsteuer abgeschöpft hat, signalisiert der Gini-Koeffizient, die Maßeinheit für Ungleichheit, dass alles besser geworden sei. Der „empörende Superreiche“ ist verschwunden, aber de facto sind die Ressourcen von einem kreativen Unternehmer auf oft antriebsschwache Ur-Erben in der Millionärshängematte übergegangen.
Der Wirtschaftshistoriker Daron Acemoglu spricht in seinem Buch „Warum Nationen scheitern“ von extraktiven versus inklusiven Systemen. Kurz gesagt, es kommt darauf an, ob eine Junta ein Land ausplündert oder ob Wirtschaft und Gesellschaft Chancen bieten und durchlässig sind. Nicht die Ungleichheit, sondern die Möglichkeit, zwischen den Vermögens- und Einkommensquintilen auf- und abzusteigen, ist der eigentlich entscheidende Indikator.
Wohlmeinende Politik in Deutschland verhindert Vermögensaufbau
Der Ökonom Thomas Sowell, der mit Daten gegen unreflektierte „Wahrheiten“ anschreibt, argumentiert mit einer einfachen Statistik. Er hebt hervor, dass die abstrakten Größen „Top 10 Prozent“ und „Ärmsten 10 Prozent“ über die Zeit nicht mit den Menschen in diesen statischen Kategorien übereinstimmen. So sei in den USA von 1996 bis 2005 das Wohlstandsgefälle zwischen Gut- und Geringverdienern massiv gewachsen – scheinbar ein klarer Indikator für einen Missstand.
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Schaut man sich die Menschen hinter der Statistik an, ergibt sich ein völlig anderes Bild. Das Einkommen der Individuen, die 1996 zum ärmsten Zehntel gehörten, wuchs in der Zeitspanne im Schnitt um 91 Prozent. Das der Menschen, die 1996 zum reichsten Zehntel gehörten, nur um zehn Prozent. Bemerkenswerterweise fiel das der ehemals 0,5 Prozent bestverdienenden Amerikaner sogar um 50 Prozent.
Es ist normal, ja sogar gut, dass junge Menschen, Studenten und Azubis wenig haben, somit statistisch arm sind und sich ihren Wohlstand erst erarbeiten müssen. Sorgen mache ich mir, wenn sich das Ärzte-Ehepaar mit Kindern kein eigenes Haus in einer Metropole leisten kann.

Wie hilft man einer breiten Bevölkerungsschicht beim Vermögensaufbau? Deutschland fällt im internationalen Vergleich vor allem bei der Aktien- und Eigenheimquote ab. Beides lässt sich auf eine wohlmeinende, aber den sozialen Aufstieg bremsende Sozialpolitik zurückführen.
Wer in Deutschland 1000 Euro verdient, zahlt monatlich etwa 100 Euro Arbeitnehmerbeitrag in die Rentenkasse, ohne sich gegenüber einem „Nichtbeitragszahler“, der später vom Staat alimentiert wird, nennenswert besserzustellen. So ist das für alle Beitragszahler aller Einkommensschichten für die ersten 100 Euro. Hätte ein Handwerker 45 Jahre lang das inflationsbereinigte Äquivalent dieser 100 Euro in einen (staatlich gesicherten) Aktienindex-Fonds eingezahlt, hätte er jetzt daraus ein Wertpapiervermögen von mindestens 350.000 Euro.
Wohlstand aufbauen: Ungleichheit ist eine ökonomische Antriebsfeder
Ähnlich sieht es beim Erwerb von Eigenheimen aus. Unser Mieterschutz entspricht ökonomisch einer regulatorischen Subvention. Als Spieltheoretiker würde ich sagen, die Alternative „Mieten“ im Vergleich zum „Kauf“ ist kurzfristig immer zu attraktiv, als dass genug Menschen den schmerzhaften, aber langfristig Vermögen schaffenden Weg des Eigenheimerwerbs gehen. Ganz anders in Großbritannien. Dort ist der Mieterschutz ein Witz.
Als Konsequenz kaufen die Briten, wenn machbar, schon nach zwei bis drei Jahren im Beruf eine extrem billige Immobilie und „hoppen“ dann mit steigendem Einkommen alle drei bis fünf Jahre in eine bessere Immobilie. Weil die eigene Immobile mit im Wert steigt, läuft den Menschen der Immobilienmarkt auch im Boom nicht davon. Gleichzeitig sind die Transaktionskosten beim Hauskauf sehr gering, während Grunderwerbsteuern für professionelle Immobilienentwickler deutlich höher sind. Eigenheimpolitik ist in Großbritannien wahlentscheidend.
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Ungleichheit ist nicht nur eine ökonomische Antriebsfeder – ich halte sie auch philosophisch und psychologisch für wichtig. Wer nicht scheitern kann, für den ist auch der Erfolg nichts wert. Vielleicht denke und lebe ich berufsbedingt zu sehr in Anreizen, aber wenn ich keinen Wohlstand aufbauen könnte, würde ich im Bett bleiben und lesen und nur zum Essen und Sport aufstehen – und auch das würde ich irgendwann wohl sein lassen. Ist ja egal, wir sind doch alle gleich.

Erstpublikation: 05.08.2023, 14:00 Uhr.





