Gastkommentar: Wir brauchen eine klarsichtigere China-Politik
Joachim Bitterlich (r.), Botschafter a. D., war Europa-, diplomatischer und sicherheitspolitischer Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl. Er ist Mitglied des Energy Security Leadership Council der European Initiative for Energy Security (EIES).
Peter Flory ist EIES Senior Fellow. Er war Nato Assistant Secretary General und U.S. Assistant Secretary of Defense mit Verantwortung für Europa, Nato und Technologiepolitik.
Chinas Präsident Xi Jinping und der russische Präsident Wladimir Putin haben gerade ihre „grenzenlose“ Partnerschaft gefeiert, die Russlands Krieg gegen die Ukraine noch mehr anheizt. Doch trotz der geopolitischen Bedrohung für Europa und der existenziellen Gefahr für die deutsche Industrie gibt es keine Anzeichen dafür, dass Berlin seine China-Politik ändern wird. Diese Haltung verhindert eine geschlossene Front gegen Pekings systemische wirtschaftliche Herausforderungen, belohnt Xis Unterstützung für Putins Aggression und bedroht den deutschen Wohlstand.
China beliefert Russland mit Technologien, die Moskaus Rüstungsindustrie stärken
Es gab bereits zahlreiche Anzeichen dafür, dass für die Deutschen nicht mehr allzu viele „Win-win“-Situationen auf dem chinesischen Markt existieren: Die Abhängigkeit von Chinas Rohstoffen und Komponenten gefährdet inzwischen die Energiewende und die Sicherheit der Bundesrepublik. Auch haben hohe Berliner Sicherheitsbeamte mehrmals vor dem Diebstahl deutscher Technologie durch Peking gewarnt. Doch eine Zeitenwende ist hier nicht in Sicht.
» Lesen Sie auch: So ernüchternd fällt die Bilanz der deutschen China-Politik aus
Einer Studie der Rhodium Group zufolge ist der Weltmarktanteil der deutschen Industrie in kritischen Sektoren wie Chemie und verwandten Produkten, Energieerzeugungsanlagen, Spezial- und Industriemaschinen, Straßenfahrzeugen und elektrischen Ausrüstungen zwischen 1995 und 2022 deutlich zurückgegangen. Gleichzeitig ist Chinas Marktanteil massiv gewachsen.
Diese Trends bestätigen die existenziellen Risiken, die auch in der Berliner China-Strategie 2023 genannt werden: Peking „hat deutlich gemacht, dass es eine globale Markt- und Technologiedominanz in Sektoren anstrebt, die für Deutschland und die Europäische Union (EU) sehr wichtig sind oder in denen Deutschland und die EU lange Zeit eine technologische Dominanz hatten“. Peking will zudem „wirtschaftliche und technologische Abhängigkeiten schaffen, um diese zur Durchsetzung politischer Ziele und Interessen zu nutzen“.
Da sich der Krieg in der Ukraine zu einem Wettstreit der Industriestandorte entwickelt, beliefert China Russland mit Mikroelektronik und Maschinen sowie mit Nitrozellulose zur Beschaffung von Artilleriemunition. „China sagt, es wolle gute Beziehungen zum Westen“, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg kürzlich in Berlin, „gleichzeitig heizt Peking den größten bewaffneten Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg weiter an. Es kann nicht beides haben.“
Die Regierungskoalition sollte die Unternehmen stärker in Richtung Risikominderung lenken
Die Europäische Kommission und viele Mitgliedstaaten haben sich mit der Strategie für wirtschaftliche Sicherheit 2023 und der Gesetzgebung zu Netto-Null-Technologien und kritischen Materialien aufeinander zubewegt. Brüssel und andere Hauptstädte sind bereit, das handelspolitische Instrumentarium der EU in Bereichen wie Chinas massiven Subventionen für Elektrofahrzeuge einzusetzen, die die deutsche Autoindustrie bedrohen.
Deutschland hat einige Möglichkeiten, sein Spiel zu verbessern.
Erstens: Die China-Strategie 2023 verweist auf „Risikominderung“, überlässt es aber den Unternehmen, mit diesen Risiken umzugehen. Die Wirtschaft muss die Scheuklappen ablegen und proaktiver werden – und die Regierungskoalition sollte die Unternehmen stärker in Richtung Risikominderung lenken.
Zweitens: Es wäre wünschenswert, wenn sich Berlin stärker gegen Chinas Rolle in Putins brutalem und illegalem Krieg einbringen würde. Experten warnen nämlich vor einem langfristigen militärischen Wettbewerb mit Moskau.
Drittens: Die deutsche Regierung hat sich verpflichtet, sich mit ihren EU-Partnern enger abzustimmen. Eine stärkere Reziprozität und weltweit gleiche Wettbewerbsbedingungen – auch mit den USA und einschließlich extraterritorialer Maßnahmen – sind naheliegende Schritte und sollten von der Wirtschaft nachhaltig unterstützt werden. Dasselbe gilt für eine Strategie zum Schutz sensibler Technologien und Infrastrukturen.
Die neuen Zölle des amerikanischen Präsidenten Joe Biden verdeutlichen die zentrale Rolle der Energietechnologie im heutigen industriellen Wettbewerb, bei dem China die Führung übernommen hat. Berlin und seine Partner müssen eine ehrgeizige Politik entwickeln, die dieser Realität Rechnung trägt. Dazu gehört die Zusammenarbeit mit der G7 und anderen Verbündeten, um die Lieferketten zu diversifizieren und Alternativen zu fördern. Auch neue Handelsvereinbarungen sind nötig, um die Industrie zu stärken und strategische Autonomie bei kritischen Technologien zu gewährleisten.
Für Deutschland ist es jetzt an der Zeit, Schlussfolgerungen zu ziehen und eine echte Strategie im europäischen Rahmen zu entwickeln.
Die Autoren:
Joachim Bitterlich, Botschafter a. D., war Europa-, diplomatischer und sicherheitspolitischer Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl. Er ist Mitglied des Energy Security Leadership Council der European Initiative for Energy Security (EIES).
Peter Flory ist EIES Senior Fellow. Er war Nato Assistant Secretary General und U.S. Assistant Secretary of Defense mit Verantwortung für Europa, Nato und Technologiepolitik.
Mehr: Europa vergibt leichtfertig Chancen in der China-Politik.