Pro und Contra: EZB-Urteil aus Karlsruhe: Konsequent entschieden oder Folge eines falschen Verständnisses?

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegen die EZB wird viel diskutiert.
Pro: Konsequentes Urteil
Von Hans-Werner Sinn
Der Aufschrei vieler Kommentatoren gegenüber dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das dem Europäischen Gerichtshof eine Mandatsüberschreitung vorwirft, bekundet, dass hier Wunsch und Rechtswirklichkeit verwechselt werden. Eine Hierarchie zwischen den Gerichten gilt nicht generell, sondern nur in Teilbereichen.
Sie besteht eindeutig für Belange der Geldpolitik, nicht aber für andere Politikbereiche, insbesondere nicht für die umfassende und alle Grenzen sprengende fiskalische Rettungspolitik, die die EZB in den letzten Jahren mit der Druckerpresse betrieben hat. Dazu hätte die EZB nach Artikel 5 des Unionsvertrages speziell berechtigt werden müssen. Das ist aber nicht geschehen.
Es kann nicht die Rede davon sein, dass die EU mit ihren Organen den Status eines Souveräns hat, wie die Kommissionsvorsitzende meint. Europa ist vertraglich meilenweit von der vielleicht wünschenswerten Staatlichkeit entfernt, die der EZB und dem EuGH eine Machtfülle gewähren würde, die man mit anderen Staaten oder Konföderationen dieser Welt vergleichen könnte.
Bislang sind die Nationalstaaten Europas noch die Herren der Verträge, und nach diesen Verträgen konnten die höchsten Gerichte Dänemarks und Tschechiens bereits in anderen Fällen Ultra-Vires-Urteile gegen den EuGH verkünden und durchsetzen.

Hans-Werner Sinn ist Ökonom und war Chef des Ifo-Instituts.
Und was den Streit um die Staatspapierkäufe betrifft, bedenke man: Nicht einmal in den USA hat die Fed die Staatspapiere der Einzelstaaten gekauft, die in Europa der Stein des Anstoßes sind. Als Kalifornien, Minnesota und Illinois am Rande der Insolvenz standen, kam die Fed nicht zu Hilfe. In der Eurozone hat die EZB den nationalen Notenbanken statt dessen bereits erlaubt, ein Drittel der ausstehenden nationalen Staatspapiere zu erwerben.
Das hat die Inhaber dieser Staatspapiere vor Vermögensverlusten bewahrt und den Staaten trotz hoher Verschuldung niedrige Zinsen verschafft, die zu noch viel mehr Verschuldung einluden. Damit hat die EZB die Wirtschaftspolitik nicht unterstützt, wie es ihr erlaubt gewesen wäre, sondern ihr diametral entgegen gewirkt, indem sie die verschiedenen Fiskal- und Schuldenpakte unterlief, die gegen die ausufernden Staatsverschuldungen geschlossen worden waren.
Vertragliche Regelungen, die der EZB eine Politik der Staatenrettung erlauben würden, die mit absehbaren Verlusten für die Steuerzahler der Eurozone verbunden sind, könnte der Bundestag nicht einmal dann mit zwei Dritteln Mehrheit beschließen, wenn er es wollte. Vielmehr müsste dazu zunächst die Bundesrepublik neu gegründet werden und sich über ein Referendum eine neue Verfassung geben. EU und EuGH haben nicht die geringsten Mittel in der Hand, das rechtlich zu erzwingen.
Es hilft auch nichts, wenn die EU jetzt ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland anstrengen sollte, denn eine EU-Strafe für die Missachtung eines nach Meinung des deutschen Verfassungsgerichts rechtswidrigen Urteils des EuGH dürfte die Regierung der Bundesrepublik Deutschland gar nicht zahlen. Und den Fall könnte man natürlich auch nicht dem EuGH vorlegen, weil er ja selbst Gegenstand des Verfahrens ist (nemo judex in causa sua). Die Konsequenzen für den Erhalt der EU wären verheerend.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts war erforderlich, um allen Beteiligten klar zu machen, dass Europa eine Rechtsgemeinschaft ist, die nicht durch eine ausufernde Rechtsprechung des EuGH oder gar durch die Entscheidungen eines technokratischen Gremiums wie des EZB-Rates weiterentwickelt werden kann, sondern nur durch die souveränen Staaten selbst.
Diese souveränen Staaten sollten einander beistehen und jenen helfen, die von der Krise besonders betroffen waren. Das ist zu allererst Italien, das die meisten Todesfälle hatte und als erstes von der Epidemie heimgesucht wurde. Neben unilateralen Hilfsmaßnahmen, die ein jeder Staat in eigener und freier Entscheidung beschließen kann, sollten die Staaten das EU-Budget aufstocken, um spezielle Hilfen für die Bürger dieses Landes und seine Hospitäler zu ermöglichen.
Und wenn das nicht reicht, kann nach den Regeln des Pariser Clubs ein Schuldenmoratorium zugunsten Italiens beschlossen werden, das ähnlich wie im Falle Griechenlands mit Kapitalverkehrskontrollen verbunden wird, um die schon seit dem März zu beobachtende, riesige Kapitalflucht aus Italien nach Deutschland und in die USA einzudämmen.
Dessen ungeachtet sollten sich die Staaten Europas zu einer politischen Union zusammenfinden, die tatsächlich die gewünschte Souveränität erlangt. Dazu gehört freilich nicht in erster Linie die Vergemeinschaftung des Geldbeutels, sondern zunächst einmal die Vergemeinschaftung der europäischen Armeen mit allem, was dazu gehört. Eine bloße Fiskalunion würde den Weg zur politischen Union blockieren, weil die einen das Geld gäben, während die anderen ihre militärischen Trumpfkarten in der Hand behielten.
Contra: Falsches Verständnis
Von Marcel Fratzscher
Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegen die EZB erwägt die EU-Kommission nun ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland. Das zeigt einmal mehr, wie viel Sprengstoff das Urteil birgt. Es enthält jedoch neben drei schwerwiegenden ökonomischen Fehlern auch legitime Kritikpunkte, die adressiert werden müssen, um diesen brandgefährlichen Konflikt zu entschärfen und den Euro nicht weiter zu schwächen.
Der zentrale ökonomische Kritikpunkt des Bundesverfassungsgerichts ist, das EZB-Anleihekaufprogramm PSPP entspräche nicht der Vorgabe der Verhältnismäßigkeit. Das Gericht moniert, das EZB-Programm verursache unverhältnismäßig hohe Kosten für Sparer, manche Unternehmen und andere Gruppen und unterstütze die Regierungen zu sehr in der Finanzierung ihrer Staatsschulden.

Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.
Dieser Vorwurf zeigt ein fehlendes ökonomisches Verständnis. Denn eine Zentralbank kann ihr Mandat der Preisstabilität nur dann nachhaltig erfüllen, wenn Beschäftigung hoch, Wachstum solide und das Finanzsystem stabil sind. Mit anderen Worten, eine Zentralbank wird nie ihr Mandat erfüllen können, wenn Zombieunternehmen florieren, Sparer enteignet werden und das Bankensystem kollabiert.
Der Vorwurf ist also ein Widerspruch in sich. Kurzum, es sollte leicht für die Bundesbank oder die EZB sein, die Verhältnismäßigkeit der Geldpolitik zu belegen, so wie sie dies mit jeder ihrer vierteljährlichen Prognosen bereits tun.
Der zweite Schwachpunkt des Gerichts ist die Forderung , die EZB dürfe nicht um jeden Preis das ihr durch die EU-Verträge gegebene Ziel der Preisstabilität verfolgen, sondern solle in jedem Einzelfall eine Abwägung tätigen, ob es sich lohnt, dieses Ziel erfüllen zu wollen. Dies ist letztlich eine Aufforderung zum Mandatsbruch. Denn nach den EU-Verträgen ist Preisstabilität das einzige primäre Mandat der EZB.
Es gibt durchaus andere Notenbanken, wie die amerikanische Notenbank, die neben Preisstabilität auch das Mandat der maximalen Beschäftigung haben. Die diesjährige Überprüfung ihrer Strategie gibt der EZB die Chance, einige der Kritikpunkte aus Karlsruhe zu adressieren. Aber eine grundlegende Änderung des Mandats würde eine Anpassung der EU-Verträge erfordern.
Der dritte Schwachpunkt ist die Forderung, die EZB solle über die Verteilungswirkungen der Geldpolitik, nicht nur innerhalb von Ländern, sondern auch zwischen Ländern der Euro-Zone urteilen. Dieses Urteil war nicht das erste, in dem das Bundesverfassungsgericht moniert, dass die EZB quasi fiskalische Risiken eingeht und viele der Risiken anderer Länder implizit von Deutschland mitgetragen werden. Nun ist eine solche Risikoteilung ein notwendiges Element einer jeden Wirtschafts- und Währungsunion, von der letztlich auch alle Mitglieder profitieren, da dies auch die Risiken für alle reduziert.
Das Bundesverfassungsgericht hat recht, dass die EZB viele dieser Risiken durch ihre Geldpolitik übernimmt, indem sie Staatsanleihen kauft und viel Liquidität an Banken vor allem schwächerer Länder vergibt. Die EZB könnte in der Tat weniger dieser Risiken übernehmen müssen, wenn die Euro-Zone eine richtige Fiskalunion und einen einheitlichen Kapitalmarkt hätte.
Der größte Widerspruch vieler EZB-Kritiker in Deutschland liegt darin, dass sie die Handlungsfähigkeit der EZB beschneiden wollen, aber gleichzeitig Maßnahmen für eine Fiskal- und Kapitalmarktunion verweigern. So gehören viele der Kritiker der EZB nun auch zu den Kritikern des von Kanzlerin Merkel und Präsident Macron vorgeschlagenen europäischen Wiederaufbauprogramms, das gerade die EZB entlasten würde.
EU und Bundesregierung müssen dringend diesen Konflikt mit dem Bundesverfassungsgericht adressieren. Der Schaden für die EZB ist durch den schwelenden Konflikt enorm. Denn die Kritik des Gerichts wird in der Öffentlichkeit, in den Medien und auch von manchen Ökonomen in Deutschland geteilt.
Das Resultat ist, dass das Vertrauen in die EZB in Deutschland massiv gelitten hat und damit letztlich auch ihre Fähigkeit, langfristig erfolgreich Geldpolitik machen zu können. Man kann vieles an der Kritik an der EZB für grundfalsch halten – so wie ich dies tue –, aber der Konflikt muss nun endlich ausgeräumt werden, um die EZB und den Euro nicht weiter nachhaltig zu beschädigen.
Die richtige Schlussfolgerung aus dem Urteil aus Karlsruhe sollte nicht sein, dass die EZB ihren geldpolitischen Kurs aufgibt. Vielmehr ist eine Veränderung der EU-Verträge notwendig, mit der das Mandat, die erlaubten politischen Instrumente und der Rahmen für das Handeln der EZB ganz explizit festgelegt werden.
Genauso wichtig ist eine Reform der Wirtschafts- und Währungsunion, mit gemeinsamen fiskalischen Instrumenten auf europäischer Ebene und einer Vollendung des Binnenmarkts. Beide Schritte sind enorm schwierig in ihrer Umsetzung. Ein Scheitern wäre jedoch katastrophal und könnte den Euro gefährden.





