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Gastkommentar – Global ChallengesDie Gefahr eines nuklearen Wettrüstens steigt

Im Kalten Krieg sorgten Atomwaffen für Stabilität. Inzwischen haben mehrere Länder Nuklearwaffen oder arbeiten daran. Das Tabu, sie einzusetzen, hat sich abgeschwächt, warnt Richard Haass. 04.09.2024 - 21:37 Uhr Artikel anhören
Der Autor Richard Haass ist Präsident emeritus des Council on Foreign Relations. Foto: REUTERS, Getty Images [M]

Beim Begriff „Proliferation“ gehen die meisten Menschen davon aus, dass es um die Verbreitung von Atomwaffen geht. Neun Länder (China, Frankreich, Indien, Israel, Nordkorea, Pakistan, Russland, die USA und das Vereinigte Königreich) besitzen derartige Waffen. Aber viele weitere haben die Fähigkeit und möglicherweise auch das Motiv, sie herzustellen. Zudem besteht die Gefahr, dass sich terroristische Gruppen eine oder mehrere dieser Waffen beschaffen und damit schrecklichen Schaden anrichten könnten.

Diese Art der Proliferation wird oft als „horizontal“ bezeichnet. Das größte unmittelbare Problem ist diesbezüglich nach wie vor der Iran, der die Zeit, die er zur Entwicklung einer oder mehrerer Atomwaffen benötigen würde, drastisch verkürzt hat. Ein Iran mit Atomwaffen würde sie möglicherweise einsetzen. Und selbst wenn nicht, würde er sich womöglich ausrechnen, dass er ungefährdet Zwang auf Israel oder einen oder mehrere seiner arabischen Nachbarn ausüben oder diese mit nicht-nuklearen, konventionellen Waffen direkt (oder über einen seiner Stellvertreter) angreifen könnte.

Ein atomar bewaffneter Iran würde wahrscheinlich ein regionales Wettrüsten auslösen. Eine derartige Dynamik würde die unberechenbarste und instabilste Region der Welt weiter destabilisieren.

China zeigt kein Interesse an Rüstungskontrollverhandlungen

Aber aktuell verdient eine andere Art der Proliferation Aufmerksamkeit: die vertikale Proliferation, also die qualitative und/oder quantitative Vergrößerung der Atomwaffenarsenale der neun Länder, die bereits über diese Waffen verfügen. Die Gefahr ist nicht nur, dass Atomwaffen in einem Krieg eingesetzt werden könnten, sondern auch, dass die Kriegswahrscheinlichkeit zunimmt, da Regierungen – wie der Iran – ermutigt werden, bei der Verfolgung ihrer geopolitischen Ziele aggressiver vorzugehen, weil sie glauben, damit ungestraft durchzukommen.

Das am schnellsten wachsende Atomwaffenarsenal der Welt gehört heute China. China ist auf dem besten Weg, die USA und Russland innerhalb eines Jahrzehnts einzuholen, und zeigt kein Interesse an Rüstungskontrollverhandlungen, die seine Aufrüstung verlangsamen würden oder seine Kapazitäten begrenzen würden.

Und dann ist da noch Nordkorea. Weder Wirtschaftssanktionen noch die Diplomatie haben das nordkoreanische Atomprogramm bisher eindämmen können. Es ist nicht weit hergeholt, sich einen nordkoreanischen Angriff auf Südkorea oder sogar Japan mit konventionellen Streitkräften vorzustellen, verbunden mit einer nuklear untermauerten Drohung an die USA, nicht einzugreifen. Das schürt den öffentlichen Druck in Südkorea, selbst Atomwaffen zu entwickeln. Es zeigt zudem, dass die vertikale Verbreitung eine horizontale Verbreitung auslösen kann, vor allem, wenn Länder, die derzeit unter dem Schutz der USA stehen, an deren Bereitschaft zweifeln, sich zu ihrer Verteidigung in Gefahr zu begeben.

Schlimmstenfalls droht eine Ära von unstrukturiertem atomarem Wettrüsten

Einen weiteren Grund zur Besorgnis bietet Russland. Russland und die USA verfügen über die beiden größten Atomwaffenarsenale der Welt. Beide sind durch Rüstungskontrollvereinbarungen (den New-Start-Vertrag) gebunden, die die Zahl der Atomsprengköpfe, die beide stationieren dürfen, und die Zahl der Trägersysteme begrenzen. Außerdem enthält der Pakt verschiedene Regelungen zur Erleichterung der Verifizierung, damit beide Regierungen sicher sein können, dass die jeweils andere Seite sich daran hält.

„New Start“ läuft im Februar 2026 aus. Russland könnte sich durchaus weigern, den Vertrag erneut zu verlängern, womöglich, weil es aufgrund der Leistung seiner Streitkräfte in der Ukraine mehr denn je auf sein Atomwaffenarsenal angewiesen ist. Oder es könnte versuchen, für seine Bereitschaft, sich weiterhin an das Abkommen zu halten, Zugeständnisse der USA in Bezug auf die Ukraine zu erlangen.

Was Washington beunruhigt, ist nicht nur, was Russland tun könnte, sondern auch, dass die USA nun mit drei atomar bewaffneten Gegnern konfrontiert sind, die ihre Politik koordinieren und im Krisenfall eine geeinte atomare Front bilden könnten. All dies veranlasst die USA, ihre eigene Atompolitik zu überdenken.

Im März hat die US-Regierung Berichten zufolge die regelmäßige Überprüfung ihrer Atomstreitkräfte abgeschlossen. Die USA werden nun als Minimum Milliarden für eine neue Generation von Bombern, Raketen und U-Booten ausgeben. Schlimmstenfalls könnten wir in eine Ära des unstrukturierten atomaren Rüstungswettlaufs eintreten.

Das Tabu der Nutzung von Atomwaffen hat sich abgeschwächt

Dies alles führt zu einem gefährlichen Moment. Das mit Atomwaffen verbundene Tabu hat sich mit der Zeit abgeschwächt. In der Tat haben russische Regierungsvertreter in der Ukraine ihre Bereitschaft zum Einsatz von Atomwaffen klar angedeutet.

Atomwaffen spielten im Kalten Krieg eine stabilisierende Rolle. Ihre Existenz trug wohl dazu bei, dass er kalt blieb. Aber es gab nur zwei Entscheidungsträger, und jede Seite verfügte über ein Inventar, das einen Erstschlag der anderen Seite überstehen konnte, sodass sie in der Lage war, Vergeltung zu üben. Das stärkte die Abschreckung.

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Dreieinhalb Jahrzehnte nach Ende des Kalten Krieges zeichnet sich eine neue Welt ab, die durch ein nukleares Wettrüsten, potenzielle neue Mitglieder in einem immer weniger exklusiven Atomwaffenklub und eine lange Liste tiefgreifender Meinungsverschiedenheiten über politische Arrangements im Nahen Osten, in Europa und Asien gekennzeichnet ist. Dies ist keine Situation, für die sich eine offenkundige Lösung anbietet; bestenfalls lässt sie sich effektiv steuern. Man kann nur hoffen, dass die Regierungen dieser neuen Ära der Herausforderung gewachsen sind.

Der Autor: Richard Haass ist Präsident emeritus des Council on Foreign Relations.

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