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USAWarum wir Amerika verlassen und wieder nach Deutschland kommen

Heute wird es melancholisch. Das ist meine letzte Handelsblatt-Wochenendkolumne – nach einem Jahr, das sich manchmal angefühlt hat wie zehn.Philipp Depiereux 19.12.2025 - 04:00 Uhr Artikel anhören
Mensch mit Wunderkerze, Kolumnist: Deutschland ist in fast allem besser als die USA, schreibt Philipp Depiereux. Foto: Getty Images, privat

Ich habe dieses Format geliebt. Weil es mir erlaubt hat, Dinge auszusprechen, die sonst zwischen News-Ticker, Talkshow-Empörung und LinkedIn-Optimierung zerrieben werden: Widersprüche. Grautöne. Und diese seltsame Mischung aus Faszination und Fassungslosigkeit, die man hier in den USA fast täglich spürt.

Fangen wir mit dem Offensichtlichen an: Dieses Jahr aus dem Weißen Haus war in Teilen ein Horrorfilm. Zölle als Drohkulisse. Lügen als Methode. Beschimpfungen als Politikstil. Diskriminierung als kalkulierter Kulturkampf. Und eine Außenpolitik, die Allianzen nicht pflegt, sondern kündigt – als wären sie Streaming-Abos.

Dazu Bilder und Berichte von Einsätzen, die nicht wie Rechtsstaat wirken, sondern wie Machtdemonstration. Ein Klima, in dem Menschen Angst bekommen, weil sie einen Akzent haben. Oder „die falsche“ Hautfarbe. Oder weil sie einfach zur falschen Zeit am falschen Ort sind.

Ja, das ist besorgniserregend.

Aber ich habe in diesem Jahr auch etwas anderes gesehen, das in Deutschland oft untergeht, weil wir die USA (zu Recht) gerne für ihre Abgründe kritisieren: Mut. Geschwindigkeit. Haltung. Kampfgeist.

„No Kings“-Proteste am Times Square in New York im Oktober: Lauter Protest. Foto: AP

Ich habe erlebt, wie Bürger, Journalisten, Gerichte, Bundesstaaten, Behörden – kurz: Institutionen – Trump und seine Leute nicht einfach „machen lassen“, sondern dagegenhalten. Manchmal leise, manchmal laut. Manchmal erfolgreich, manchmal frustrierend langsam. Aber dieses „Checks and Balances“-Prinzip ist nicht nur ein Lehrbuchsatz – es ist hier, trotz allem, ein aktiver Überlebensmechanismus.

Ich kam mit wehenden Fahnen. Und landete schnell auf dem Boden.

Als ich vor inzwischen dreieinhalb Jahren Deutschland verlassen habe, bin ich mit wehenden Fahnen eingereist. Amerika! Alles größer, cooler, freier, schneller. „Mega“ eben.

Und dann kommt das Leben.

Dann sitzt du plötzlich in einem Land mit spektakulärer Tech-Fassade – und merkst, dass hinter der Fassade erstaunlich viel wackelt: Infrastruktur, die in Teilen schlicht nicht da ist. Öffentlicher Verkehr, der für viele keine echte Option ist. Häuser in Bestlagen, die sich anfühlen wie Filmkulissen. Stromausfälle als „normal“. Ein Gesundheitssystem, das medizinisch Weltklasse ist – und gleichzeitig Menschen finanziell zerstören kann.

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Mein Fazit – und darüber habe ich hier oft geschrieben – ist heute klarer denn je:

Deutschland ist in fast allem besser als die USA: soziales Netz. Infrastruktur. Verbraucherschutz. Bildung (bei allen Baustellen). Grundversorgung. Stabilität. Außer beim Mindset.

Der Busfahrer und die eine Sache, die ich den Amerikanern wirklich abnehme

Wenn ich ein Bild aus dieser Zeit mitnehme, dann ist es dieses: ein Busfahrer in L. A., der lächelt, Witze macht, Koffer schleppt – und dann erzählt, dass bald eine neue Tram gebaut wird und er seinen Job verlieren könnte.

Er sagt nicht „Skandal“. Er sagt nicht „Die da oben“. Er sagt nicht „Dann ist alles vorbei“. Er sagt sinngemäß: „Wird schon. Irgendwas mache ich dann. Das ist Amerika.“

Diese Haltung ist nicht naiv. Sie ist ein Betriebssystem.

Und ja – sie nervt uns Deutsche manchmal, dieses ständige „Have a nice day“. Dieses Lächeln. Diese „positive vibes“. Aber dahinter steckt oft eine brutale Wahrheit: In einem Land, das dich im Zweifel nicht auffängt, musst du nach vorne schauen. Du musst machen. Du musst wieder aufstehen.

In Deutschland ist vieles abgesichert. Das ist ein Segen. Aber es hat eine Nebenwirkung: Wir gewöhnen uns an das Jammern als Grundrauschen. An das Besserwissen ohne Tun. An das Delegieren von Verantwortung: „Die Politik“, „die Verwaltung“, „die Medien“, „die da oben“, „die anderen“.

Aktenstapel: Uns bremst nicht nur Bürokratie, schreibt Depiereux. Foto: Brand X Pictures/Getty Images

Und genau das ist unser Mindset-Problem.

Wir feiern zu wenig. Und wir teilen das Falsche.

Ich feiere Deutschland inzwischen jeden Tag. Nicht, weil alles perfekt wäre. Sondern, weil wir vergessen haben, wie gut vieles ist.

Was uns bremst, ist nicht nur Bürokratie. Es ist auch unsere Saturiertheit. Unsere Nörgel-Routine. Diese „Lass mal die anderen machen“-Mentalität. Dieses reflexhafte „Die sind schuld“.

Und dann passiert etwas, das mich wirklich wütend macht – weil es so typisch ist: Die Bundesregierung startet das Portal „Einfach machen“. Bürger, Mitarbeitende, Unternehmer können dort ineffiziente und absurde Prozesse melden, Verbesserungsvorschläge machen, Bürokratie konkret benennen, damit sie abgebaut werden kann. Radikale Nutzerzentrierung. Start-up-Denke im Staat. Weltklasse.

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Und: Zum ersten Mal ein Portal, das nicht auf Denunziation setzt, sondern auf Verbesserung. Davon hatten wir in Deutschland lange genug andere Varianten.

Und was passiert?

Fast nichts.

Ein bisschen Berichterstattung bei den Öffentlich-Rechtlichen. Private Medien: weitgehend Funkstille. Social Media: erstaunlich leise. Dabei regen wir uns doch seit Jahren kollektiv über Bürokratie auf. Das ist doch genau der Moment, wo man sagen müsste: „Endlich! Da passiert was!“

Ja, ich weiß: Schlechte Nachrichten verkaufen sich besser. Empörung klickt. Untergang ist eine sichere Währung.

Aber ganz ehrlich: Haben Medien nicht auch Verantwortung für das Klima in diesem Land? Und noch wichtiger: Haben Sie nicht auch Verantwortung dafür?

Mein Wunsch zum Abschied: Jeden Tag eine gute Geschichte

Wenn wir ein neues Deutschland wollen, wenn wir ein starkes Europa wollen, dann reicht es nicht, nur „gegen“ etwas zu sein. Dann brauchen wir mehr „für“ etwas.

Mein Vorschlag ist banal – und genau deshalb wirkungsvoll: Gewöhnen wir uns an, jeden Tag eine gute Geschichte zu erzählen. Eine echte. Eine konkrete. Aus dem Verein. Der Schule. Der Firma. Der Stadt. Aus der Politik, wenn sie mal liefert. Aus dem Alltag. Egal.

Nicht als Schönfärberei. Sondern als Gegengift.

Denn wenn wir nur das Schlechte erzählen, trainieren wir uns kollektiv auf Ohnmacht. Und Ohnmacht ist der Nährboden für Populismus, Zynismus und Stillstand.

Wir brauchen das Gegenteil: Handlungsfähigkeit. Stolz. Dankbarkeit. Mut.

Und jetzt wird es persönlich

Vielleicht passt es zu dieser letzten Kolumne, dass ich zum Schluss noch etwas Persönliches teile: Wir haben als Familie entschieden, im Sommer 2028 nach Deutschland zurückzukehren.
Nicht, weil wir Amerika „abgehakt“ hätten. Nicht, weil hier alles schlecht wäre. Sondern, weil wir glauben, dass unsere Erfahrungen von hier drüben in Deutschland besser aufgehoben sind – im echten Leben, nicht nur in Kolumnen.

Ich freue mich darauf, Deutschland wieder aus der Nähe zu erleben. Mit all den Ecken und Kanten. Mit Bahnstreiks und Behördengängen. Mit Vereinsleben, Diskussionen im Freundeskreis, politischem Streit – und hoffentlich mit etwas mehr Bereitschaft, die eigenen Stärken zu sehen.

Vielleicht können wir dann gemeinsam an einem neuen deutschen Mindset arbeiten: weniger nörgeln, mehr machen. Weniger „Die da oben“, mehr „Was kann ich beitragen?“. Weniger Untergangsszenario, mehr Zukunftslust.

Tschüss, aber nicht leise

Das war’s also in diesem Format.

Ihnen, den Leserinnen und Lesern, danke ich für Aufmerksamkeit, Widerspruch, Nachrichten, Zuspruch – und auch für die kritischen Mails. Dem Handelsblatt danke ich für das Vertrauen und den Raum, diese transatlantische Lernkurve so persönlich aufschreiben zu dürfen.

Ich bleibe euch natürlich treu. Nur nicht mehr als „Deutschland/USA-Wochenendkolumnist“. Der Rest liegt jetzt bei Ihnen – und natürlich auch bei Ihnen allen: Feiern Sie mehr. Teilen Sie mehr Gutes. Machen Sie mehr. Deutschland hat es verdient. Und Europa auch.

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Philipp Depiereux ist Unternehmer und Autor und lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern seit knapp drei Jahren in Newport Beach, Kalifornien. Er hat im vergangenen Jahr seine Eindrücke aus den USA und Deutschland im Handelsblatt-Wochenende geteilt.

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