EU-Kolumne: Abgeordnete in Aufruhr: Der Krisenmodus der EU stößt an seine Grenzen

Die EU-Kommission holt sich für ihre Vorschläge das Okay der Mitgliedstaaten, nicht aber die Zustimmung des EU-Parlaments.
Der Brief von Ursula von der Leyen kam nicht gut an. Kürzlich bot die Kommissionspräsidentin der Europäischen Union an, Abgeordnete des Europaparlaments besser über Entscheidungen in der Energiekrise zu informieren.
Mit einer „Kontaktgruppe“ aus Parlamentariern wolle die Kommission „den Dialog vertiefen“. Die Abgeordneten fühlten sich verschaukelt. Schließlich haben sie sich wählen lassen, um politische Entscheidungen zu treffen und nicht um über politische Entscheidungen informiert zu werden.
Doch bei der Bewältigung der Energiekrise haben die Volksvertreter bislang wenig Einfluss. Die EU-Kommission holt sich für ihre Vorschläge das Okay der Mitgliedstaaten, nicht aber die Zustimmung des EU-Parlaments. Die EU wächst gerade geopolitisch über sich hinaus bei Themen wie Rohstoffen, Russlandsanktionen und Energie und das Parlament steht dabei nur an der Seitenlinie.
Gedacht ist das so nicht. Gesetze werden in der EU eigentlich von zwei gleichberechtigten Gesetzgebern erlassen: dem Parlament und dem Rat. Im Parlament sitzen die Abgeordneten, die alle fünf Jahre bei der Europawahl gewählt werden. Im Rat sind die Regierungen der Mitgliedstaaten mit ihren Ministern oder Staatssekretären vertreten.
Bis sich diese beiden Machtzentren auf ein neues Gesetz geeinigt haben, können manchmal Jahre vergehen. Darum gibt es in Krisenzeiten eine Abkürzung: Wenn notwendig, kann der Rat auch allein entscheiden.
Das passiert derzeit ständig, etwa wenn es darum geht, Gas einzusparen, Gas gemeinsam einzukaufen oder Übergewinne von Energiekonzernen abzuschöpfen. Praktisch die gesamte Krisenreaktion der EU stützt sich auf ein Verfahren, bei dem das Parlament außen vor bleibt, festgelegt in Artikel 122 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union.
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Je länger dieser Zustand andauert, desto weniger sind die Abgeordneten bereit, das hinzunehmen. Kürzlich feierte das Europaparlament seinen 70. Geburtstag und wurde in angemessener Weise als historisch einmalige Institution gepriesen. Nie zuvor haben Völker einen entsprechend großen Teil ihrer Souveränität an ein gemeinsames Parlament abgegeben.
Doch seine Mitglieder sehen diese Errungenschaft derzeit gefährdet. Manfred Weber (CSU), Chef der größten Fraktion im Parlament, sagte beispielsweise: „Wir sollten nicht weitermachen mit Gesetzesvorschlägen auf Basis von Artikel 122. Es hört sich technisch an, ist aber demokratisch sehr wichtig.“




Christoph Herwartz, Korrespondent im Handelsblatt-Büro in Brüssel, analysiert Trends und Konflikte, Regulierungsvorhaben und Strategiekonzepte aus dem Innenleben der EU. Denn wer sich für Wirtschaft interessiert, muss wissen, was in Brüssel läuft. Sie erreichen ihn unter: herwartz@handelsblatt.com
Solange Eile bei für die EU wichtigen Themen geboten ist, dringt das Parlament mit seinen Bedenken kaum durch. Derzeit lässt der Rat aber bei manchen Gesetzen kaum Zeitdruck erkennen. So wurde das Gesetz zur gemeinsamen Gasbeschaffung kürzlich um mehrere Wochen verschoben, obwohl es fertig ausgehandelt war. Der Grund: Einige Staaten blockierten einen Entschluss, um bei einem anderen Thema Fortschritte zu erzwingen.
Die im Vergleich zum Sommer deutlich entspanntere Versorgungssituation lässt solche politischen Manöver zu. Die Verzögerung verschlimmert die Krise nicht. Wenn das so ist, fehlt allerdings auch das zentrale Argument, das Parlament weiterhin nicht an der Krisenbewältigung zu beteiligen.
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