Geoeconomics: Krieg gegen Israel: Deutschland darf sich nicht mehr wegducken

Claudia Major ist eine deutsche Politikwissenschaftlerin und Forschungsgruppenleiterin für Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Seit knapp einer Woche schaut Deutschland mit Entsetzen auf Israel, wo am Morgen des jüdischen Schabbat-Festes die Terrororganisation Hamas Israel angriff, Zivilisten grausam folterte, verschleppte, tötete. Mehr als 1200 Opfer hat der Terror der Hamas bereits gekostet, die Zahl wird weiter steigen.
Die regionalen und internationalen Folgen sind noch nicht absehbar. Auch Deutschland muss überlegen, was die dramatische Situation für die eigene Außenpolitik bedeutet, vom Stopp der Finanzierungen für die palästinensischen Gebiete bis zur Unterstützung für die Ukraine.
Denn der Terror gegen Israel ist ein weiteres, wenn auch außerordentliches Beispiel für die lange Liste schnell aufeinander folgender oder paralleler gewaltsamer Herausforderungen, vor denen die deutsche Außenpolitik steht. An dem Wochenende, als die Hamas Israel mit Terror überzog, riss in Afghanistan ein Erdbeben Tausende von Menschen in den Tod.
Währenddessen terrorisiert Russland weiter die Ukraine mit massivem Raketenbeschuss. Kurz zuvor eskalierte Serbien im Kosovo, griff Aserbaidschan Nagorno-Karabach an. China bedrängt Taiwan.
Das Muster dahinter: Viele Akteure, darunter zentrale wie Russland und China, stellen die bisherige Ordnung infrage und wollen sie nach ihren Vorstellungen verändern, mit politischem und wirtschaftlichem Druck, aber auch militärischer Gewalt. Und für viele scheinen die Vorteile militärischer Gewalt so groß zu sein, dass sie die Kosten dafür akzeptieren.
Zusammen mit anderen Herausforderungen, von Pandemien bis wirtschaftlicher Rezession, entsteht eine Polykrise sich rasant vermehrender und ineinandergreifender Probleme und Kriege.
Eine Zeitenwende ist nun eine Notwendigkeit
Um in diesem volatilen Umfeld zu bestehen, ist eine Zeitenwende keine Option, sondern Notwendigkeit. Diese fängt zu Hause an mit der Neuausrichtung von Strukturen, Prozessen und Ressourcen.
Zeitenwende bedeutet aber vor allem ein Umsteuern in den Köpfen: anzuerkennen, dass sich im internationalen Gefüge etwas fundamental verändert hat, die Bedeutung militärischer Macht wächst (selbst wenn wir sie kritisch sehen), dass andere Akteure (Staaten wie Russland, Organisationen wie Hamas) ihre Ziele lieber mit Gewalt als Verhandlung durchsetzen und Deutschland als wirtschaftlich stärkstes Land eine zentrale Rolle in Europas Antwort hat.
Gerade Deutschland, das von internationalen Waren-, Finanz- und Personalströmen abhängt, hat ein Interesse daran, dass weltweit Stabilität und Verlässlichkeit erhalten bleiben. Das ist die Voraussetzung für Freiheit, Sicherheit und Wohlstand. Es kann sich nicht wegducken, als ginge das da draußen uns nichts an. Es muss normativ und aus Eigeninteresse mehr für die internationale Stabilität, Regeln – und gegen Gewaltherrschaft tun.

Die politische Führung müsse anerkennen, dass sich im internationalen Gefüge etwas fundamental verändert hat und die Zeitenwende deshalb eine Notwendigkeit geworden sei.
Wie die Ukraine kämpft auch Israel gegen den Terror, um seine Existenz – und um die politische Aufmerksamkeit und materielle Unterstützung des Westens. Und jetzt, da Israel in den Mittelpunkt rückt, droht die Ukraine in Vergessenheit zu geraten. Die USA stehen an der Spitze der Unterstützung für Kiew; nun braucht auch Israel Hilfe.
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Und so verlegt Washington, Israels Sicherheitsgarant, einen Flugzeugträgerverband in die Region und schickt Material. Dies kann den Druck im US-System erhöhen und die Knappheit bei Waffen und Munition verschärfen.
Es könnte zu Konkurrenz kommen – bei der politischen Aufmerksamkeit und praktischen Unterstützung – zwischen der Ukraine, Israel (potenziell Taiwan). Angesichts einer solchen potentiellen Unterstützungslücke ist Europa gefragt, zum Beispiel um die Unterstützung für die Ukraine zu sichern.
Und das ist nur ein Vorgeschmack dessen, was an Aufgaben auf Europa zukommen könnte. Eine Vorahnung lieferte der Streit zwischen Demokraten und Republikanern und die Absetzung des Sprechers des Abgeordnetenhauses, was den US-Staat handlungsunfähig machte.
Krisen im Westen spielen China und Russland in die Hände
Um den Übergangshaushalt, der kurz vor einem kompletten Shutdown doch beschlossen wurde, zu erneuern, muss jedoch ein neuer Kandidat ins Amt gewählt werden. Dass dabei die längerfristige Unterstützung für die Ukraine in der Schwebe ist, sollte Europa alarmieren.
Das verweist auf tiefer liegende Veränderungen, die spätestens die US-Präsidentschaftswahlen 2024 prägen könnten. Denn die Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus oder ein Triumph der republikanischen Hardliner versprechen nichts Gutes – weder für die Unterstützung der Ukraine noch für Europa.
Diese Entwicklungen spielen Russland, aber auch China in die Hände: Regionale Konflikte, Chaos und Instabilität lenken von dem Krieg in der Ukraine und Eskalationen um Taiwan ab. Auch wenn es bislang keine Anzeichen einer direkten Beteiligung Moskaus in Israel gibt, deutet vieles darauf hin, dass die vom Iran unterstützte Hamas im Austausch mit dem Kreml stand.
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Dies sollte Mahnung genug sein, die deutsche und europäische Zeitenwende voranzubringen und breiter aufzustellen. Ziele sind Wehrhaftigkeit und Resilienz, um für aktuelle und zukünftige Krisen gewappnet zu sein, aber auch politische, wirtschaftliche und militärische Gestaltungsinstrumente, um handlungsfähig zu bleiben. Das betrifft die Strukturen, Prozesse und Fähigkeiten gleichermaßen.
Israel hat innerhalb von 48 Stunden 300.000 Reservisten mobilisiert. Davon sind wir weit entfernt. Ganz praktisch ist es zum Beispiel auch höchste Zeit, die Industrie endlich zu aktivieren, um die Munitionsbestände dem in Israel und in der Ukraine zu beobachtenden Verbrauch anzupassen.






Wenn die Ereignisse der letzten Woche eines gezeigt haben, dann, dass eine geruhsame Zeitenwende angesichts des gewaltbereiten internationalen Umfelds fahrlässig ist.





