Geoeconomics: Warum Europa auf die Unterstützung der USA angewiesen ist
Claudia Major ist eine deutsche Politikwissenschaftlerin und Forschungsgruppenleiterin für Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Foto: Klawe Rzeczy, Getty, PRNächstes Jahr um diese Zeit wissen wir wahrscheinlich schon, wer die US-Wahlen gewonnen hat. Donald Trump hat gute Aussichten, noch einmal ins Weiße Haus einzuziehen. Es kann aber auch ein anderer republikanischer Kandidat sein, der Trumps Abneigung gegen Allianzen, Fakten und Europa teilt.
Wir Europäer können erahnen, was das für die transatlantischen Beziehungen bedeuten könnte: Schließlich hat Trump bereits 2016 bis 2020 eine disruptive Amtsperiode hingelegt, in der er die Europäer mit seinem „America First“-Ansatz, Strafzöllen, alternativen Fakten bis zum Infragestellen der Nato von einem Schock zum nächsten katapultierte.
Deshalb könnte man vermuten, dass die Europäer aus der Vergangenheit gelernt haben und Vorkehrungen treffen, etwa in der Verteidigungspolitik. Denn Europa mit weniger US-Beteiligung oder gar ohne verteidigen zu müssen – das ist ein Alptraum für die Europäer. Aber leider durchaus realistisch.
Trump hat einen Nato-Austritt ins Spiel gebracht. Und das ist keine Randmeinung. Ob Austritt oder US-Desinteresse – der Effekt wäre letztlich der gleiche: Europa muss seine Sicherheit selbst gewährleisten – nicht wie jetzt ein bisschen, sondern umfassend und dauerhaft.
Denn Eigenständigkeit wäre dann keine Option, sondern Notwendigkeit. Europa müsste weitgehend allein entscheiden und umsetzen, wie seine Sicherheit aussieht. Davon sind wir jedoch trotz aller Zeitenwenden weit entfernt.
Ohne US-Unterstützung auf sich allein gestellt
Wenn Europas Sicherheit trotz einer disruptiven und international selektiven USA genauso verlässlich sein soll wie jetzt und auf den bewährten Instrumenten – glaubwürdiger Abschreckung, Verteidigungsfähigkeit und politischer Führung – beruhen soll, dann kommen militärisch und politisch enorme Aufgaben auf Europa zu – und eine Phase der Ungewissheit während der Neuaufstellung.
Donald Trump hat gute Aussichten, noch einmal ins Weiße Haus einzuziehen.
Foto: ReutersDenn die Realität ist: Militärisch sind die Europäer abhängig von den USA. Das betrifft die Transportfähigkeit genauso wie konventionelle Ausrüstung, US-Nuklearwaffen für die Abschreckung in Europa und Truppenstationierungen, beispielsweise an der Nordostflanke der Nato.
Selbst wenn die Europäer heute begännen, wären sie im besten Fall in zehn bis 15 Jahren in der Lage, diese Lücken zu füllen – und das auch nur bei besten politischen und finanziellen Bedingungen.
Wenn sie sich mit Waffensystemen aus eigener europäischer Produktion verteidigen wollen, etwa einem europäischen Luftkampfsystem, würde es noch länger dauern. Mindestens genauso dringlich sind die Lücken, die die USA in anderen Bereichen hinterlassen würden, etwa Aufklärung. Vereinfacht formuliert wären die Europäer ohne US-Unterstützung weitgehend blind, stumm und taub.
Auch US-Atomwaffen, die die nukleare Abschreckung in Europa gewährleisten, lassen sich nicht einfach ersetzen. Es wird immer wieder über einen europäischen Schirm nachgedacht, den die Atommächte Frankreich und Großbritannien aufbauen könnten. Aber dabei würde die Verlässlichkeit des Schutzes für die Nato-Staaten sinken, die bislang unter dem US-Schirm sind.
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Und gleichzeitig würde für die Außenwelt die Unsicherheit steigen, wann und wie Europa agiert. Die nukleare Ordnung würde instabiler – was umso dramatischer ist, da Russland diese bereits mit den wiederholten nuklearen Drohungen im Krieg gegen die Ukraine infrage stellt und China nuklear aufrüstet.
Wie geeint wird Europas Verteidigung sein?
Komplex sind auch die politischen Fragen. Wie geeint wird Europas Verteidigung ohne US-Führung sein? Kein anderer Nato-Staat hat das Standing und den Einfluss, Washington als politische Führungsmacht zu ersetzen.
Selbst die großen Europäer haben weder den Anspruch noch die Unterstützung, um die Rolle des regionalen Hegemons zu übernehmen. Wer übernimmt also politische Führung und hält das europäische Haus zusammen? Am wahrscheinlichsten ist ein Führungstrio aus Paris, London und Berlin, doch eine inhaltliche Einigung wird angesichts der unterschiedlichen Prioritäten schwierig.
Und selbst dann hätten sie kaum die gleiche Führungsstärke und Akzeptanz wie die USA. Gleichzeitig könnten einige Staaten versucht sein – wie bereits bei Trump I –, aus Furcht vor einer schwachen Nato ihre bilateralen Beziehungen mit den USA zu intensivieren.
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Damit wollen sie ihre nationale Sicherheitslage verbessern, würden aber langfristig die Nato schwächen und damit letztlich auch Europas kollektive Sicherheit. Das Risiko, dass Europa sich zerstreitet und schwächt, ist real.
Für die Europäer ist das eine beunruhigende Perspektive. Aus Trump I scheinen sie wenig gelernt zu haben. Sie sollten jetzt anfangen, sich ernsthaft auf eigene Füße zu stellen, und nicht im November 2024 erneut (und vorhersehbar) überrascht sein.