Kolumne „Out of the box": Künstliche Intelligenz weiß alles und begreift nichts
2023 war das Jahr der Künstlichen Intelligenz. ChatGPT und seine Freunde haben mehr Schlagzeilen produziert als Donald Trump. Sie haben uns überrascht. Sie sind groß, schlau und schnell geworden. Mit ihren neuen Fähigkeiten haben sie den Unternehmen Tür und Tor geöffnet und die Universitäten ins Schwitzen gebracht. Das Arbeitsverhältnis von Mensch und Maschine, Studierenden und Masterarbeit muss neu definiert werden.
Die Welle der Begeisterung ist bis in die Chefetage der Wirtschaft geschwappt. KI steht weltweit ganz oben auf der Agenda – ob CES, World Economic Forum oder Start-up. Jede Abteilung muss nun künstlich intelligent werden. Ohne KI ist in Zukunft kein Geschäft zu machen.
Die Künstliche Intelligenz präsentiert sich als Heilsbringer in einer unheilvollen Zeit. Während der Mensch mit dem Tempo und der Komplexität aktueller Themen überfordert ist, löst die KI Probleme auf Knopfdruck und in Sekundenschnelle. Dieses Wirkversprechen trifft eine tiefe Sehnsucht: den Wunsch, all die Mühseligkeiten des Lebens „outzusourcen“ wie die Routenplanung an Google Maps.
Doch Achtung, die Künstliche Intelligenz hat sich unter falschem Namen bei uns eingeschlichen. Sie ist gar nicht intelligent. Sie ist ein Rechenkünstler und Illusionist. Sie kann Wahrscheinlichkeiten kalkulieren, Muster registrieren und kopieren, Tonalitäten und Emotionalitäten auslesen und sich ganz an uns anpassen.
KI ist gar nicht intelligent
Meine Frau hat letzte Woche mit einem Bot kommuniziert, der so nett war, dass sie nicht auflegen wollte. Das Unternehmen Spike hat analysiert, dass der Bot der Telekom der Klassenbeste ist: Er ruft messbar Freundschaftsgefühle hervor. Was man von den Mitarbeitern im Callcenter ja nicht immer behaupten kann.
Der Mensch ist das sozialste aller Wesen. Es will gesehen, gehört und wertgeschätzt werden. Ein Mensch kann zu Gott und der Welt in Beziehung treten. Er liebt seine Kinder, die Freunde, das Haustier und sogar sein Auto. Und ist überzeugt, sie lieben ihn zurück. Das wird nun vollautomatisch gegen ihn verwendet.
Früher haben Menschen das Kommando gegeben, heute ist die KI am Drücker. Sie kennt alle Knöpfe, die sie drücken muss, damit wir anspringen. KI ist von Beruf Stalker. Sie weiß, was du letzten Sommer, gestern Abend und vor einer Minute getan hast. Der Mensch wird „predictable“, ein berechenbares Wesen.
Spotify kennt deine Lieblingssongs, Amazon empfiehlt Produkte, die du unbedingt sehen solltest, und Netflix weiß, welcher Film bei dir heute angesagt ist. Und weil es so „convenient“ ist, lehnen wir uns zurück und machen entspannt mit. So verändert Technologie unser Verhalten. Um zu checken, wie das Wetter wird, gucken wir auf die App statt aus dem Fenster. Wir „swipen“, um die Liebe unseres Lebens zu finden, und sammeln Likes, um unser Selbstbewusstsein zu stärken.
KI ist immer in Rufweite, hört aufs Wort, tut schlau und hat doch keine Ahnung, wie es uns geht. Ihre Welt sind die Nullen und Einsen. Sie sammelt Berge von Informationen, und doch fehlt ihr jedes Verständnis. Wir Menschen begreifen das Leben mit Haut und Haaren, unseren fünf Sinnen und haben ein Gespür für das Unbegreifliche.
KI kennt kein Bedürfnis, kein Leid und keine Freude. Wie fühlt es sich an, wenn dein größter Kunde kündigt? Dein Kind ins Krankenhaus muss? Oder du befördert wirst? Das emotionale Verständnis der KI ist nicht größer als das Ihres Staubsaugers. Sie kann sich allerdings besser ausdrücken.
KI ist ein Illusionskünstler, ein Heiratsschwindler moderner Art. Er hat keinerlei Interesse an uns, mag uns nicht einmal, sondern hat es am Ende immer nur auf unser Geld abgesehen. Wir sollten achtsam sein. Die KI führt uns an der Nase herum.
KI bedeutet eben auch „Künstliche Intimität“ (Artificial Intimacy). Eine Fake-Veranstaltung. Wir spüren die Auswirkungen am eigenen Leib: Tausende von Followern, aber immer weniger Freunde, Hunderte von Likes, doch niemand hilft beim Umzug. Wir sind „hyper-connected“ und dabei mutterseelenallein.
Die Technik hält uns vom Leben ab. Sie drängt sich zwischen uns, meist schon am Frühstückstisch. Die E-Mail bietet keinen Platz, um zwischen den Zeilen zu lesen. Statt Lob gibt es ein Emoji. Die menschlichste aller Fähigkeiten, die Empathie, degeneriert. So verlieren wir das Gefühl für uns und die anderen.
Ghosting wird zum Massenphänomen. Eine Beziehung wird heute durch digitale Teilnahmslosigkeit beendet. Ein unterschriebener Arbeitsvertrag ist lange kein Grund mehr, am ersten Arbeitstag auch zu erscheinen. Die Gesellschaft und die Wirtschaft leiden an sozialem Muskelschwund.
Das verlangt einen neuen Muskel in der Führungsetage: die Beziehungsintelligenz. Die Fähigkeit, spürbare Verbundenheit zu schaffen und damit das Team, die Kunden und den Laden zusammenzuhalten. Die Kunst, sich innerlich mit dem täglichen Tun, dem Unternehmen und den Kunden verbunden zu fühlen wird zur Zukunftsaufgabe.
Der Mensch hat von Natur aus alles, was die KI gern hätte: Er kann mit uns fühlen, uns auf die Schulter klopfen und selbst das Ungesagte hören. Das Menschliche macht in Zukunft den großen Unterschied. Wer will, kann schon heute damit beginnen.