Editorial: Der gute Schubs aus Washington


Eine verstörende Woche geht zu Ende. Und doch war sie, versteckt hinter viel Getöse, eine Woche der unterschätzten guten Nachrichten.
Am Anfang aber stand ein politischer Donner, dessen Nachhall Europa noch lange begleiten wird. Die USA haben ihre Nationale Sicherheitsstrategie veröffentlicht – und wer bis dahin nicht begreifen wollte, wie schnell sich Europa verändern muss, um im geopolitischen Machtkampf der Zukunft zu bestehen, der weiß es jetzt.
Trumps Strategen zeichnen ein düsteres Tableau für Europa: wirtschaftlicher Verfall, kulturelle Erosion, ja, der drohende „Untergang der Zivilisation“. Sie wollen den Widerstand gegen den Kurs der Europäischen Union in den EU-Ländern befeuern.
Und folgt man der Nachrichtenplattform Defense One, dann gibt es in einer nicht veröffentlichten Version des Papiers den Plan, Länder wie Österreich, Italien, Ungarn, Polen enger an Washington zu binden, um sie zugleich von der EU „abzuziehen“. Solche Strategien kannte man bislang aus Moskau. Nun ertönen sie aus Washington. Manche Experten sprechen von einer „Kriegserklärung“.
Doch wer die Schärfe der MAGA-Ideologie in diesem Papier ausblendet, erkennt eine zweite Botschaft: eine ungeschönte Diagnose europäischer Schwäche. Europa verliert seit Jahren Anteil am globalen Bruttoinlandsprodukt. Das ist keine amerikanische Übertreibung, sondern Statistik.

Die Tonlage des Dokuments erinnert in Teilen an eine Elternrede, die einem längst erwachsenen Sohn gilt, der sich beharrlich weigert, das Haus zu verlassen. Es ist Zeit, aufzustehen. Zeit, die Komfortzone zu verlassen. Keine Drohung, eher ein Schubs.
Das Dokument enthält auch Sätze, die sanfter klingen als der Rest: „Europa bleibt für die Vereinigten Staaten strategisch und kulturell von entscheidender Bedeutung.“ Und: „Wir brauchen ein starkes Europa, das uns dabei hilft, erfolgreich im Wettbewerb zu bestehen.“
Das ist keine Absage an die Partnerschaft. Im Gegenteil: Die USA wissen, dass sie auf Europa nicht verzichten können. Weil sie auch wissen, dass Europa deutlich stärker ist als sein Ruf, wie mein Kollege Jakob Hanke Vela diese Woche in einem großartigen Kommentar beschrieben hat. Und doch ist klar, dass die EU weiter an sich arbeiten muss – in Bereichen wie Verteidigung, Binnenmarkt oder Kapitalmarktunion deutlich schneller und radikaler als bislang.
Liest man diese Botschaft aus dem Papier, dann kann es tatsächlich Dynamik entfalten. In dieser Woche war ein Hauch dieser neuen Energie bereits zu spüren. Denn es gab sie, die unterschätzten guten Nachrichten.
Regeln für das KI-Zeitalter
Die EU hat ihre Klimapolitik angepasst, ohne den Klimaschutz aufzugeben. Die Vision der Klimaneutralität behält sie bei, verschafft aber ihren Mitgliedern ein wenig Luft. Sie hat das Lieferkettengesetz entschärft und damit gerade mittlere und kleinere Unternehmen vor dem Bürokratie-Burn-out bewahrt.
Gleichzeitig tritt Brüssel gegenüber den amerikanischen Tech-Konzernen mit neuer Festigkeit auf. Die Strafe gegen Elon Musks Plattform X, die Ermittlungen gegen Google wegen möglicher KI-Verstöße – all das mag in Washington für Rachegelüste sorgen, doch die Schritte waren richtig. Jemand muss damit beginnen, die Regeln für das KI-Zeitalter zu entwerfen und umzusetzen, bevor die Technologie sie selbst gestaltet.
Wenn es der EU-Kommission nun auch noch gelingt, eingefrorene russische Vermögen für die Ukraine nutzbar zu machen, wäre das eines der stärksten Signale europäischer Handlungsfähigkeit seit Langem.
Und Deutschland? Auch hier wäre mehr Dynamik nötig, aber auch hier gab es in dieser Woche Entwicklungen, die Hoffnung machen. Kaum war das umstrittene Rentenpaket beschlossen, begann die Grundsatzdebatte von Neuem. Sozialministerin Bärbel Bas zeigte sich überraschend offen für das Modell, den Renteneinstieg an Beitragsjahre zu koppeln. Ernüchternd bleibt, dass die Politik noch immer zuerst Klientelwünsche wie Haltelinie, Mütterrente und Agrardiesel bedient, bevor sie sich den strukturellen Problemen widmet. Aber immerhin: Es wird wieder über das Wesentliche gesprochen.
Auch wirtschaftlich regt sich Neues. Mercedes wagt einen radikalen Strategiewechsel und meldet erste, zarte Erfolge. Der Drohnenhersteller Helsing plant mit europäischen Firmen eine Aufrüstung im All. Black Forest Labs aus dem Schwarzwald sammelt enorme Summen ein, um deutsche KI in der Weltliga zu halten. Das alles reicht noch nicht für eine wirtschaftliche Zeitenwende. Aber es zeigt: Das Land ist nicht gelähmt.
Als Olaf Scholz noch Kanzler war, belebte er die „konzertierte Aktion“ wieder – eine kollektive Kraftanstrengung von Politik, Arbeitgebern und Gewerkschaften. Die Wirkung blieb wie die gesamte Kanzlerschaft recht blass, doch der Gedanke war richtig: Ein Land, das wieder nach oben will, braucht viele, die gleichzeitig losspringen.




Die Politik könnte die Körperschaftsteuer früher als 2028 absenken – so wie es CSU-Chef Markus Söder im Handelsblatt vorgeschlagen hat. Die Wirtschaft könnte stärker ins Risiko gehen und geplante Investitionen vorziehen, etwa jene, die sie in der Initiative „Made for Germany“ vollmundig versprochen hat. Und die Bürgerinnen und Bürger könnten einen Beitrag leisten, ohne sich zu verausgaben.
Die Wirtschaftsweisen schreiben in ihrem jüngsten Jahresbericht, ein nicht unerheblicher Teil des prognostizierten Wachstums 2026 von 0,9 Prozent rühre schlicht daher, dass im kommenden Jahr mehr Feiertage aufs Wochenende fallen. Dänemark hat 2023 einen Feiertag gestrichen, um Rüstung zu finanzieren. Noch immer ein Tabu, sicher. Aber eines, das in einem Dauertief, wie wir es erleben, wie ein Zündfunke für den Wachstumsmotor wirken könnte. Es wäre zugleich ein Bekenntnis, dass es einen gesellschaftlichen Willen gibt, Deutschlands großes Potenzial wieder zu erwecken. Was am Ende vor allem auch Europa hilft.
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