Kolumne „Out of the box“: Schritt für Schritt nach vorne? Deutschlands Erfolgsmodell ist ein System von gestern!


Frank Dopheide ist Gründer und Geschäftsführer der Unternehmensberatung Human Unlimited, die sich auf das Thema „Purpose“ spezialisiert hat. Zuvor war er unter anderem Sprecher der Geschäftsführung der Handelsblatt Media Group und Chairman von Grey Worldwide.
Managementguru Peter Drucker wusste um die Schwerkraft der Kultur. Jene unausgesprochenen Selbstverständlichkeiten, die im Unternehmen das tägliche Tun bestimmen. Die Kultur mithilfe von Exceltabellen und Town Hall Meetings zu verändern war seit jeher ein hilfloses Unterfangen. Nachdem sich die Kultur an der Strategie sattgegessen hat, wendet sie sich nun der Innovation zu.
Hier wird die Sache noch mal schwieriger. Und dramatischer. Seit Jahrzehnten haben deutsche Unternehmen die Kultur der Optimierung zelebriert. Die evolutionäre Weiterentwicklung war der goldene Mittelweg zum nächsten Quartalsziel. Schritt für Schritt nach vorne. Man hat aus dem Bestehenden das Beste gemacht und damit große wirtschaftliche Erfolge gefeiert. Die Unternehmen, der Umsatz und die Dividenden wuchsen jahrzehntelang – bis zum heutigen Tag. Die Zahlen und die Fünfjahrespläne wiegen die Unternehmen in Sicherheit.
Doch die Welt erfindet sich heute sprunghaft neu: durch Krieg, Klima, Arbeiter- und Ressourcenmangel, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. Unsere Kultur der kleinen Rädchen wird zum großen Bremsklotz. Die Bertelsmann-Stiftung fördert Erschreckendes zutage: Nur zwanzig Prozent der Unternehmen im Lande können als besonders innovativ bezeichnet werden. Der Anteil disruptiver Innovatoren, die die Kraft haben, Märkte auf den Kopf zu stellen, liegt bei zwölf Prozent. Fast vierzig Prozent der Unternehmen gibt an, nicht aktiv nach Neuerungen zu suchen. Stell dir vor, es ist Zukunft, und wir arbeiten nicht daran.
Die Kultur der kleinen Schritte ist das Betriebssystem vergangener Tage. Die erfolgreichsten Unternehmen von heute agieren fundamental anders. Apple, die wertvollste Firma aller Zeiten, ist auch die innovativste, zeigt eine Studie von BCG. Apple ist in jeder Hinsicht eine andere Nummer: die Ersten, die drei Billionen Dollar Marktkapitalisierung erreichten, umgerechnet etwa der Dax 75 oder das Bruttoinlandsprodukt von Frankreich.
Wie ist Apple das gelungen? Steve Jobs und Tim Cook glaubten nie an das Gesetz der homöopathischen Veränderung. Apple profitiert seit jeher von Gedankensprüngen über Märkte und Industrien hinweg. Ein Computerhersteller wurde zum Musikträger und -anbieter, erfand das Telefon neu und wagte sich ins Fernsehgeschäft. Und die kleinen Airtags tragen ganz unauffällig bereits eine Milliarde zum Umsatz bei.
Frank Dopheide: VW ist der Zukunft kein Stück nähergekommen
Dass Apple begann, Armbanduhren herzustellen, entlockte der Schweizer Uhrenindustrie ein müdes Lächeln. Heute sind Apples Smartwatches ein Zwanzig-Milliarden-Business, dreimal so groß wie die große Swatch Group und der Schlüssel für das Geschäft der Zukunft: die Gesundheit. Alles wird getrackt, dokumentiert, kommentiert und mit Beratung und Services monetarisiert. Da lockt bereits der nächste Türöffner – Apple Pay.
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Apples fokussiert nicht auf Produktgruppen und Industrien, sondern auf Kundenbedürfnis, Zeit pro Tag und Smartness.
2020 startete der VW-Chef eine Innovationsoffensive der großen Dimension. Auf dem Weg zum digitalen Mobilitätsdienstleister wurden 75 Milliarden Euro für Investitionen freigeschaufelt, um bis 2024 zu Tesla und den Tech-Giganten aufzuschließen. Produziert hat Volkswagen damit jedoch in erster Linie Stürme der Entrüstung, der CEO wurde von Bord gespült und VW ist der Zukunft kein Stück nähergekommen. Beharrungskraft schlägt Veränderungswillen.
Die Auswirkungen der deutschen Optimierungskultur werden nun sichtbar. Deutschland hat zwei Quartale hintereinander an Wirtschaftskraft verloren. Die Rezession steht auf der Türschwelle und klingelt Sturm. Die Lidl-Gruppe zeigt, es geht anders. Der 150-Milliarden-Euro-Discounter drückt nicht mehr nur die Einkaufspreise, sondern wird selbst zum Foodhersteller, Entsorgungsunternehmen und Cloudanbieter. Nicht allein die Optimierung des Regalpreises steht im Fokus, sondern die Möglichkeiten, die Größe und die Zugänge. Die Zahlen sind eindrucksvoll.
„If you want something new, you have to stop something old“, war Peter Druckers Rat. Corona hat es allen gezeigt: Die Kultur lässt sich ändern, von einem Tag auf den anderen.





Aber dafür muss sich auch etwas ändern. Menschen müssen den Unterschied sehen und fühlen. Die täglichen Rituale sind ein großer Hebel, um Wirkung zu erzeugen – in jedem Meeting, auf jeder Agenda, mit jeder E-Mail. Es braucht ein begehrenswertes Zielbild, frische Vorbilder und Geschichten mit einer neuen Tonalität. Die ersten Erfolge müssen sichtbar und nach Kräften gefeiert werden. Kulturveränderung ist die Veränderungsarbeit von Mensch zu Mensch. Tag für Tag. Heute ist ein guter Moment, damit anzufangen.





