Landwirtschaft: Europas Landwirte sind zur Industrialisierung gezwungen

Nicht nur in Deutschland gehen die Landwirte auf die Straße, auch in zahlreichen anderen europäischen Ländern protestieren Bauern. Das könnte den Eindruck erwecken, der Sektor sei noch von bäuerlichen Betrieben geprägt – doch weit gefehlt. Den Trecker steuert heute millimetergenau ein spezielles GPS. Ein Futtercomputer mästet das Schwein.
„Die Industrialisierung der Landwirtschaft findet statt und sie geht weiter“, sagt Felix Colsman, CEO der DAH Gruppe. Die bewirtschaftet in Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen rund 20.000 Hektar Land, das ist ungefähr das 300-fache des deutschen Durchschnitts. Ein Hektar entsprechen 10.000 Quadratmeter. Zudem verdient das Unternehmen Geld mit Biomethan und Photovoltaik.
Seit Jahrzehnten vollzieht sich in der deutschen Landwirtschaft ein knallharter Strukturwandel. Allein zwischen 2010 und 2022 schwand laut Destatis rund ein Sechstel der Betriebe.
Agrarfremde Unternehmen wie die Rethmann-Gruppe, Viessmann oder die Deutsche Wohnen kaufen sich ein, Kapitalgesellschaften oder Genossenschaften bilden Mammutstrukturen wie die Odega mit 18.000 Hektar oder die DAH Gruppe. Deren Eigentümer ist der Vermögensverwalter Igneo Infrastructure Partners.
Steigende Boden- und Pachtpreise sind ein Treiber des Strukturwandels. Wichtiger ist der Preisdruck, der von der verarbeitenden Industrie und vom Lebensmitteleinzelhandel ausgeht. Auf längere Sicht steigen die Preise für Vorleistungen und der Kapitalaufwand schneller als die möglichen Erlöse. Wachsen oder Weichen ist die Konsequenz.
Landwirt-Genossenschaften beklagen geringe Marktmacht
Der Trend zeigt sich nicht nur in Deutschland. „Ein Landwirt wird zum Wolf des anderen“, zitiert die französische Tageszeitung „Le Monde“ den Manager einer Agrarbank. Der Drang zur Steigerung der Produktion mache „die Landwirte zu Kannibalen, sie verschlingen ihren Nachbarn.“ Es überlebe nur der, der sich vergrößern könne, der Böden zukaufe oder pachte. Permanente Existenzangst ist die Folge.
Zur Selbsthilfe hatten die Landwirte vor mehr als 100 Jahren Genossenschaften gegründet. Doch „die Marktmacht der Genossenschaften gegenüber dem Einzelhandel ist zu gering, um die Preise beeinflussen zu können“, urteilt Andreas Eisen, Bereichsleiter Landwirtschaft beim Genoverband.

Dabei sind die Genossenschaften teils zu Großkonzernen mit Milliardenumsätzen geworden. In den USA, Frankreich und Spanien, auch in Deutschland bilden sich Kooperativen von Landwirten und Verbrauchern, um im Direktabsatz ökologische Produktion zu auskömmlichen Preisen zu ermöglichen.
Doch die neuen Kooperationen zwischen den Landwirten bleiben marginal. Die geltende Logik, größere Betriebe für mehr und effizientere Produktion zu schaffen, hält Eisen für alternativlos: „Strukturwandel wird es auf jeden Fall auch in Zukunft geben.“ Es gehe nicht darum, ihn aufzuhalten, sondern ihn zu gestalten.
„Den Weg zu mehr Produktivität zu behindern ist nicht wünschenswert“, stellt Eisen fest. Wenn Deutschland die Produktion runterfahre, würden „anderswo auf der Welt mehr Flächen landwirtschaftlich genutzt – im Extremfall auf Kosten des Regenwaldes.“
Landwirtschaft: Wer zahlt für faire Preise?
Den Zwang zum Wachstum bestätigt die Grünen- Bundestagsabgeordnete Anne Monika Spallek: „In den letzten Jahrzehnten haben die Betriebe auf die schlechten Preise stets mit Wachstum reagiert, mehr Tiere, mehr Düngung, mehr Fläche, mehr Maschinen, mehr Pestizide, um ihre Einkommen zu sichern.“ Damit konnten sie Skalierungseffekte erreichen.
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Doch Spallek sieht eine Kehrseite: die Belastung von Umwelt und Natur. Die Produktion müsse nachhaltiger werden, Ökologie ein Geschäftsmodell. DAH-CEO Colsman hält dagegen: Gerade Großbetriebe wendeten pro Fläche weniger Pestizide, Diesel und Dünger auf als kleinere.




In einem dürften sich beide einig sein: Wenn trotz Rekordinflation bei Lebensmitteln selbst hocheffiziente Betriebe über unzureichende Preise klagen, läuft etwas schief. „Die Landwirtschaft braucht faire Preise“, räumt Spallek ein. Die Frage sei, „wer das am Ende bezahlt.“ 2022 zahlte die EU rechnerisch bereits jedem deutschen Landwirt im Schnitt 22.000 Euro – etwas mehr als dreimal so viel wie der Regelbedarf des Bürgergeldes.
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Erstpublikation: 14.02.2024, 11:09 Uhr.





