Newsletter Shift: Dieses Potenzial übersehen viele Führungskräfte in ihren Teams

Wussten Sie, dass in Deutschland etwa 21 Millionen Menschen mit Einwanderungsgeschichte leben? Das sind Menschen, die selbst oder deren Eltern seit 1950 nach Deutschland gekommen sind.
Dazu gibt es eine bemerkenswerte Statistik: Mehr als die Hälfte dieser Mitbürgerinnen und Mitbürger spricht neben Deutsch zu Hause noch eine weitere Sprache. Das wären etwa 11,3 Millionen Menschen. Am häufigsten ist es laut Statistischem Bundesamt Türkisch, gefolgt von Russisch, Arabisch und Polnisch. Erst dann kommt Englisch.
Aber wie ist es bei Bewerbungsunterlagen oder Vorstellungsgesprächen? Ich bin mir sicher, dass Sie angeben sollten oder gefragt wurden, ob Sie Englisch sprechen. Aber Türkisch? Russisch? Was ist mit den anderen Sprachen, die Millionen Bürgerinnen und Bürger beherrschen? Sind wir vielleicht zu sehr aufs Englische gepolt? Und liegt in der Mehrsprachigkeit nicht ein gewaltiges Potenzial?
Mit diesen Fragen habe ich mich bei Tobias Schroedler gemeldet. Er ist Juniorprofessor für Mehrsprachigkeit und gesellschaftliche Teilhabe an der Universität Duisburg-Essen (UDE). Schroedler forscht seit 15 Jahren zum Wert von Sprache am Arbeitsmarkt, sein Forschungsschwerpunkt liegt im Ruhrgebiet. Dort ist die sprachliche Diversität groß.

Viele Gastarbeiter kamen seit den 1950er-Jahren, um im Bergbau und der Schwerindustrie zwischen Rhein und Ruhr zu malochen. Seither hat der Strukturwandel die Region verändert. Ihre Wirtschaft ist heute ebenso divers wie ihre Städte, in denen nun viele Menschen mit eben jener Einwanderungsgeschichte leben. Aber profitieren sie im Berufsleben auch von ihren Sprachkenntnissen?
„Wir wissen aus der wirtschaftlichen Fachliteratur, dass sich Mehrsprachigkeit oft nicht im Gehalt widerspiegelt – mit einer Ausnahme“, sagt Schroedler. Wer neben Deutsch noch fließend Englisch spricht, verdient laut aktuellem Forschungsstand in der Regel mehr Geld als jemand, der neben Deutsch eine andere Fremdsprache beherrscht.
Statistisch betrachtet ist daher auf dem deutschen Arbeitsmarkt zunächst kein positiver Effekt anderer Sprachkenntnisse auf das Gehalt zu beobachten. „Auf individueller Ebene muss es diese Effekte allerdings geben“, sagt Schroedler.
Positive Effekte für Unternehmen und ihre Beschäftigten?
Stellen wir uns vor, ein türkischsprachiger Reiseverkehrskaufmann arbeitet in einem touristischen Großunternehmen. Er kann durch seine Türkischkenntnisse besonders effektiv Pauschalreisen mit Anbietern in der Türkei planen, was nicht nur für das Unternehmen lukrativ ist, sondern auch einen positiven Effekt auf seinen Bonus hat.
Ein anderes Szenario ist allerdings auch vorstellbar: Eine italienischsprechende IT-Technikerin wird häufig eingesetzt, wenn ein bestimmter internationaler Kunde Support benötigt. Sie ist eigentlich nicht im Kundenservice und fühlt sich bei der Beratung auf Italienisch nicht immer wohl, weil ihr manchmal Fachbegriffe nicht einfallen. Aber sie spricht Italienisch, daher macht sie es trotzdem. Die Firma profitiert von ihrer Sprachkompetenz – ohne zusätzliche Vergütung oder Schulung.
„Wir finden immer wieder Ausbeutungs- und Ausnutzungsmechanismen“, schlussfolgert Schroedler. Am meisten habe ihn überrascht, dass es laut zahlreichen Schilderungen eher eine Belastung auf individueller Ebene sein kann, im Job seine Herkunftssprache zu nutzen. Daher hat er eine Studie zum Sprachgebrauch am Arbeitsplatz initiiert, für die das Forschungsteam nun Teilnehmerinnen und Teilnehmer sucht.
Eine These der Forscherinnen und Forscher lautet: Es gibt Beschäftigte, die ihre Herkunftssprachen bei der Arbeit erfolgreich nutzen – davon jedoch nicht immer profitieren. „Mein Eindruck ist, dass in Unternehmen vieles unbemerkt verläuft: Es ist wahrscheinlich, dass viele Vorgesetzte von diesen Fällen nichts mitbekommen“, sagt Schroedler. Gleichzeitig können sich diese im Verborgenen ablaufenden Mechanismen für Unternehmen lohnen.
Effektives Instrument im Kundenkontakt
Was wünschen sich Beschäftigte? Wie können Unternehmen ihr Potenzial heben? Und wie lässt sich einer Ausbeutung entgegentreten? Die nun beginnende Studie soll helfen, Antworten auf diese Fragen zu finden. Schroedler rät Führungskräften und Unternehmen schon jetzt: Sie sollten ein Bewusstsein für das Thema Herkunftssprachen entwickeln.
Das könnte ihre Beschäftigten nicht nur vor jenen Ausnutzungs- und Ausbeutungsmechanismen schützen, sondern ihnen auch wirtschaftliche Chancen bieten. Schroedler sagt: „Gerade bei Unternehmen, in denen es viel Kundenkontakt gibt, liegen die Möglichkeiten auf der Hand: Wie viel mehr Profit ließe sich erzielen, wenn Herkunftssprachen gezielt gefördert und genutzt werden?“

Wer neben Deutsch noch eine oder mehrere Herkunftssprachen spricht, berufstätig ist und Erfahrungen teilen möchte, kann an der Studie teilnehmen. Für die zehnminütige Umfrage spielt es keine Rolle, ob Sie Ihre Herkunftssprache für private Notizen nutzen, beim Kaffee mit den Kolleginnen und Kollegen oder geschäftlich bei Telefonaten, Mails oder in der Kommunikation mit Kundinnen und Kunden. Die Teilnahme ist anonym. Zur Umfrage gelangen Sie hier.
Sind Ihnen weitere Beispiele bekannt, bei denen Unternehmen vermeintlich offensichtliche Skills ihrer Beschäftigten nicht fördern? Dann schreiben Sie uns an newsletter@handelsblatt.com!
Dieser Text ist zuerst am 4. August 2025 im Newsletter Handelsblatt Shift erschienen. Den Newsletter können Sie hier abonnieren.






