Populismus: Deutschland empört sich, Amerika schweigt – und beide verlieren

In Deutschland wird seit Tagen darüber gestritten, ob man mit der AfD reden darf oder ob schon das bloße Zuhören eine Kapitulation vor dem Extremismus ist. Ausgelöst hat die Debatte der Verband „Die Familienunternehmer“, der AfD-Vertreter zu einem Austausch eingeladen hatte. Ich habe diese Diskussion auf LinkedIn aufgegriffen und dort einen Sturm ausgelöst: Die Reaktionen reichten von echtem Erkenntnisinteresse bis zu scharfer Empörung. Und genau diese Mischung zeigt das eigentliche Problem.
Viele schreiben, man dürfe AfD-Funktionären keine Bühne geben. Andere fordern ein Verbotsverfahren. Wieder andere sagen, der Dialog sei reine Zeitverschwendung, weil „die ohnehin in einer anderen Welt leben“. Dazwischen stehen diejenigen aus Ostdeutschland, die berichten, dass seit 20 Jahren Politik an ihnen vorbei gemacht werde. Dass sich niemand für ihre Lebensrealität interessiere. Dass die AfD nicht trotz, sondern wegen der etablierten Politik wächst.
Was in Deutschland passiert, kenne ich aus den USA – nur dort ist es noch radikaler. Hier spricht niemand mehr über Politik, jedenfalls nicht über Parteigrenzen hinweg. Jeder lebt in seiner eigenen Medienblase. Ich habe es in meiner Kolumne über die rechte Medienwelt beschrieben: Fakten haben in vielen amerikanischen Haushalten keine Priorität mehr, Ideologie steht über allem.
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Wer „Fox News“ schaut, glaubt an eine von Kommunisten kontrollierte EU; wer „MSNBC“ schaut, hält jeden Republikaner für einen Demokratiefeind. Der gemeinsame Raum dazwischen ist verschwunden. Und in diesem Vakuum konnte einer wie Donald Trump gedeihen – ein Präsident, der die Verfassung angreift, Institutionen schwächt und demokratische Normen mit einem Schulterzucken abräumt.
Das Bemerkenswerte ist: Die breite Masse hat nichts dagegen unternommen. Natürlich gibt es in den USA mutige Menschen: Richter, Generalstaatsanwälte, Aktivisten, engagierte Bürger, die sich lautstark gegen Trump und die Erosion demokratischer Normen stellen. Aber der gesellschaftliche Mainstream schweigt.

Es gibt keinen offenen Streit mehr, keinen politischen Austausch im Alltag, sondern ein jahrzehntelanges Nebeneinander zweier Lager. Und in diesem Schweigen konnte einer wie Trump überhaupt erst groß werden.
Genau deshalb halte ich die deutsche Haltung („Wir reden nicht mit denen“) für gefährlich. Nicht, weil ich AfD-Politik legitimieren will – im Gegenteil –, sondern, weil Abschottung selten Extremismus stoppt. Meist verstärkt sie ihn.
Wenn ich mir die Kommentare unter meinem LinkedIn-Beitrag anschaue, merke ich, wie tief dieser Reflex sitzt. Viele wollen die AfD politisch stellen, indem sie sie ignorieren. Das funktioniert aber nur in einem Land, das politisch funktioniert. Und genau hier liegt der Kern: Die AfD wäre längst einstellig, wenn die Bundesregierung endlich anfangen würde, mutig und kompetent zu regieren.
Wir könnten uns 90 Prozent dieser Debatte sparen, wenn Probleme nicht jahrelang liegen bleiben würden: Energiepolitik ohne Plan, Migration ohne Integration und Konsequenz, Infrastruktur im Stillstand, Digitalisierung im Schneckentempo, ein Steuersystem aus einer anderen Epoche. Dazu eine Bürokratie, die alles und jeden lähmt.
Ich sehe das in den USA besonders deutlich. Hier stimmen viele Menschen aus einer Mischung aus Verzweiflung über ihre Lebenssituation und dem völligen Hereinfallen auf Propaganda und Lügen für Trump – nicht, weil sie Autokratie wollen, sondern, weil niemand ihre Sorgen ernst genommen hat. Und genau deshalb müssen wir die AfD nicht nur durch gute Politik kleinmachen, sondern sie parallel mutig stellen, entlarven und ihre Narrative brechen. Abschottung bringt nichts – Aufklärung schon.
Doch gute Politik allein reicht nicht. Deutschland braucht wieder eine Vision. Eine Idee davon, wohin dieses Land eigentlich will. Eine Geschichte, die Menschen in Nord und Süd, West und Ost abholt – nicht nur über Steuerklassen, Gesetzesnovellen und Förderprogramme. Politik ohne Vision ist Verwaltung. Und genau so fühlt sich Deutschland seit Jahren an: wie ein Land, das seine Zukunft verwaltet, statt sie zu gestalten. Vision hingegen schafft Vertrauen, Orientierung und Zusammenhalt – und nimmt Populisten den Resonanzraum.
Meine Erfahrung hier in Kalifornien ist eindeutig: Schweigen ist der schnellste Weg in die Spaltung. Empörung der schnellste Weg zur Eskalation. Und Nicht-Handeln der sicherste Weg, Populisten groß zu machen.






Wenn Deutschland das versteht, dann wird die AfD nicht an einer Brandmauer scheitern – sondern an einer Politik, die endlich wieder Mut, Haltung, Lösungen und eine gemeinsame Vision zeigt. Genau das fehlt seit zwei Jahrzehnten. Und genau das würde den Unterschied machen.
Philipp Depiereux ist Unternehmer und Autor und lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern seit knapp drei Jahren in Newport Beach, Kalifornien. Er teilt seine Eindrücke aus den USA und Deutschland alle 14 Tage im Handelsblatt-Wochenende.
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