BIP Die schwierige Kunst, den Wohlstand zu berechnen

Norbert Häring ist Korrespondent in Frankfurt.
Mit den einfachsten Fragen tun die Ökonomen sich am schwersten. Was ist Wohlstand? Wie misst man ihn? Steigert Wachstum automatisch die Lebensqualität? Auf das, was Millionen Bürger interessiert, finden die Wirtschaftsexperten keine befriedigenden Antworten.
Sie sind seit Jahrzehnten gedrillt in der Disziplin des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Berechnet wird es als die Summe aller Güter und Dienstleistungen, die in einem Jahr in einem Land oder einer Staatengemeinschaft als Endprodukte erzeugt werden. Das ist für die Ökonomen der wichtigste, wenn nicht sogar der alleinige Maßstab. Dabei amüsierte sich schon 1968 Robert Kennedy, der später ermordete Bruder des US-Präsidenten: "Das BIP misst alles, außer dem, was das Leben lebenswert macht." Denn dieser Indikator erfasst alle wirtschaftlichen Aktivitäten, ob sinnvoll oder sinnlos, nützlich oder schädlich, ohne sie zu bewerten.
Das hat absurde Folgen: Der Bau und die laufende Produktion der Bohrinsel "Deepwater Horizon" haben das BIP gesteigert. Die Versuche, die Folgen der Ölschwemme nach der Explosion der Plattform einzudämmen, haben es noch einmal kräftig erhöht. Doch wenn Deepwater Horizon nie gebaut worden wäre, ginge es der Menschheit zweifellos besser. Auch wie das Einkommen verteilt und die Arbeit organisiert ist, ignoriert das BIP, obwohl beides für die Lebensbedingungen eine große Rolle spielt.
Weit über die Wirtschaftspolitik hinaus gilt das BIP-fixierte Wachstumsdiktat. Maßnahmen, die nach diesem Kriterium als "wachstumsschädlich" kritisiert werden können, etwa im Bereich der Sozialpolitik, haben von vornherein einen schweren Stand. Eine Senkung der Kriminalität etwa verbessert zweifellos unsere Lebensqualität, sie mindert aber das BIP, weil dann ja weniger Gefängnisse gebraucht werden und Unternehmen wie Privathaushalte weniger Sicherungseinrichtungen anschaffen.
Dennoch gilt das BIP in Medien und Politik als der Wohlstandsindikator. Ein anderes Maß, das die vielen Dimensionen des materiellen Wohlergehens einer Nation prägnant auf den Punkt bringt, haben wir nicht. Doch die Bürger sind zunehmend kritisch. Die Suche nach anderen Maßstäben nimmt zu, eine neue Wachstumsskepsis breitet sich aus. Die Enquetekommission des deutschen Bundestages, die in dieser Woche zu ihrer ersten Sitzung zusammentrat, ist ebenfalls Ausdruck der Unzufriedenheit mit dieser Situation. Die 17 Abgeordneten und 17 Experten sollen in den nächsten zweieinhalb Jahren prüfen, "wie die Einflussfaktoren von Lebensqualität und gesellschaftlichem Fortschritt angemessen berücksichtigt werden können".
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Gut eine Antwort:
Es gibt Leute die sind arm, haben aber genug Platz und Lebensraum für sich und ihre Kinder.
Fallbeispiel: Familie mit 8 Kindern lebt ausschließlich vom Kindergeld, hat aber trotzdem einen qualitativ hochwertigen Lebensraum zur Verfügung. Doch dieser Lebensraum wurde vermutlich vererbt.
Hingegen leben andere in Obdachlosigkeit und WG´s, Schwiegereltern, engen Wohnungen mit entsprechenden nachbarn etc. ohne eine wesentliche Möglichkeit einer Einflussnahme. Selbst wenn sie hartz4 erhalten die Lebensqualität ist miserabel.
Lebensqualität oder expertokratische Symbolformung?
Vielleicht ist es einigen Damen und Herren entgangen, dass der begriff der “Lebensqualität” schon ein zentrales Fortschrittskriterium der zweiten sozialliberalen bundesregierung zu beginn der 1970er Jahre gewesen ist. Schon damals wurde eine interministerielle Arbeitsgruppe zur Erarbeitung und Auswertung sozialer indikatoren eingesetzt, anhand derer die Lebensqualität zu messen versucht wurde.
Die daraus zu erzielen gedachten Ergebnisse sollten politische Antworten auf die der Lebensqualität zuwiderlaufenden Tendenzen ermöglichen. Hierbei fanden ökologische Aspekte erstmals eine herausragende Rolle. Gewiss dominierte noch ein Zeitgeist vom Ausbau des Wohlfahrtsstaates, allerdings nicht mit den Zielen - wie sie heute noch immer von bestimmter Seite vorgebracht werden - eines die individuelle Freiheit unterdrückenden Kollektivismus alla Sowjetunion. im Gegenteil, es fand ein Streben nach höheren Anspruchsformen der Partizipation der Gesellschaftsmitglieder statt - und die damalige SPD/FDP-Regierung stand dieser Entwicklung aufgeschlossen gegenüber.
“Mehr Demokratie wagen” beinhaltete den Aufruf zum sozial engagierten bürger, ihm nämlich bei sozialstaatlicher Absicherung der Existenz und des Lebensstandards die politische Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen zu ermöglichen mit den Wirkungen, Antworten auf Fragen zur Lebensqualität auch selber geben zu können. Und damit die in einer modernen Demokratie erforderlichen Einflüsse bereitzustellen, die erforderlich sind, auf den Gebieten des sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens innovative Ziele unter dem Aspekt der Qualitätssteigerung zu setzen.
Peng, dann kam die geistig-moralische Wende.
Sicherlich nicht über Nacht. Denn statt der angestrebten Pazifizierung der diversen interessenlagen durch das auf Lebensqualität ausgerichtete Reformwerk, begann sich eine aus zunehmenden interessenkämpfen bestehende Abwehrhaltung zu etablieren, die schließlich in eine offensive, nach und nach strukturell gefestigte Wendepolitik mündete. Die Abkehr vom Fortschrittskriterium Lebensqualität war besiegelt. So wurden ja schon früh von sogenannter konservativer Seite Gefahren der Auflösung der Dualismen von Staat und Wirtschaft, von Arbeit und Konsum behauptet. Demnach stände durch die Sozenpolitik das Leistungsprinzip auf dem Spiel, die individuelle Freiheit sei gefährdet, Formen der Dekadenz würden sich ausbreiten und das bewusstsein für Fleiß und Pflicht aushöhlen usw. Es handelte sich um weitgehend haltlose Unterstellungen und beschimpfungen, welche noch immer gebraucht werden, wenn aktuelle Einbildungen zu Äußerungen führen, der Staat würde die ganze Wirtschaft vereinnahmen oder Gewerkschaften würden die privaten Produktionsmittel in Arbeitnehmerhand überführen. Leider haben solche propagandistischen Praktiken zur Folge, dass etwa entstehende Effekte, die von in ihrer Existenz sozialstaatlich umfassend gesicherten bürgern auf die gestaltende Dynamik organisatorischer, konsumtioneller und technologischer innovationen ausgehen, regelmäßig ausgeblendet werden. Schließlich hält ein sozialstaatlich gewährleisteter effizienter Einsatz individueller Ökonomie ein breiteres Spektrum an Potenzialen sowohl für den Einzelnen als auch für die Gemeinschaft bereit, als eine auf unbedingten Kampfeinsatz beruhende Workfare-Politik, die vorwiegend den geistigen Horizont schon allein dadurch vernebelt, indem das Subjekt auf ein einzelgängerisches “know how”-Denken zurückgeworfen wird und sich innerhalb dieses verengten Kanals zu bewegen hat.
Knapp vierzig Jahre sind seit dem sozialliberalen Fortschrittskriterium der Lebensqualität vergangen. Statt welfare dominiert workfare. Statt einer sich wenigstens untereinander wettbewerbsfreundlich - im Sinne der ideenvielfalt - bewegenden Expertokratie, hat sich über Jahrzehnte eine Expertokratie des Marktdogmas etabliert. Von Partizipation des bürgers, der selber Antworten auf seine Vorstellungen von Lebensqualität gibt, sind wir, so scheint es, weit entfernt ... trotz web 2.0. Und wagt sich der bürger doch dazu zu äußern, dann kann er möglicherweise auf der nächsten Demonstration bekanntschaft mit dem schwingenden Knüppel schließen.
Nun, Lebensqualität ist zuallererst eine Leerformel, die besetzt sein will. Leerformeln sind auch so Wörter wie Marktwirtschaft, Eigenverantwortung oder beschäftigungsfähigkeit. Diese aufgeführten Wörter werden zu begriffen und Symbolen geformt, die längst ihren Einzug in die Sozialgesetze gefunden haben: Der Mensch habe sich eigenverantwortlich um seine beschäftigungsfähigkeit zu bemühen, um den Ansprüchen der Marktwirtschaft zu genügen. Die Deutungshoheit steht: Wer in diese Gesetze fällt, weist Defizite auf, die bis zu unterstellten Devianzen reichen.
Wie wird auf Grundlage dieser einzig expertokratisch festgelegten Deutungshoheit die zum Symbol gemachte Lebensqualität aussehen, zumal Deutung zumindest über zwei Sprachen erfolgt - nämlich der Fach- und der Alltagssprache? Und somit unterschiedliche Verständnisse über das hoheitlich gedeutete und so fixierte Symbol bestehen könnten, wobei schließlich nicht ein einheitlich kollektives Verständnis verfügbar gemacht wird, sondern schlimmstenfalls mit einer ideologischen Fachsprache reine Manipulation und Suggestion die Folge sind.
Wie auch immer, es sollte von der vom bundestag eingesetzten Kommission zur Ermittlung sozialer indikatoren zur Messung der Lebensqualität erwartet werden dürfen, dass die vergangenen vierzig Jahre einer äußerst peniblen Analyse unterstellt werden. Denn es wäre an Ergebnissen zu zweifeln, die die Entstehungsgeschichte zu Versuchen der Wertung des begriffs der Lebensqualität ausgeblendet ließen.
(leicht korrigierter Kommentar)
Lebensqualität oder expertokratische Symbolformung?
Vielleicht ist es einigen Damen und Herren entgangen, dass der begriff der “Lebensqualität” schon ein zentrales Fortschrittskriterium der zweiten sozialliberalen bundesregierung zu beginn der 1970er Jahre gewesen ist. Schon damals wurde eine interministerielle Arbeitsgruppe zur Erarbeitung und Auswertung sozialer indikatoren eingesetzt, anhand derer die Lebensqualität zu messen versucht wurde.
Die daraus zu erzielen gedachten Ergebnisse sollten politische Antworten auf die der Lebensqualität zuwiderlaufenden Tendenzen ermöglichen. Hierbei fanden ökologische Aspekte erstmals eine herausragende Rolle. Gewiss dominierte noch ein Zeitgeist vom Ausbau des Wohlfahrtsstaates, allerdings nicht mit den Zielen - wie sie heute noch immer von bestimmter Seite vorgebracht werden - eines die individuelle Freiheit unterdrückenden Kollektivismus alla Sowjetunion. im Gegenteil, es fand ein Streben nach höheren Anspruchsformen der Partizipation der Gesellschaftsmitglieder statt - und die damalige SPD/FDP-Regierung stand dieser Entwicklung aufgeschlossen gegenüber.
“Mehr Demokratie wagen” beinhaltete den Aufruf zum sozial engagierten bürger, ihm nämlich bei sozialstaatlicher Absicherung der Existenz und des Lebensstandards die politische Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen zu ermöglichen mit den Wirkungen, Antworten auf Fragen zur Lebensqualität auch selber geben zu können. Und damit die in einer modernen Demokratie erforderlichen Einflüsse bereitzustellen, die erforderlich sind, auf den Gebieten des sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens innovative Ziele unter dem Aspekt der Qualitätssteigerung zu setzen.
Peng, dann kam die geistig-moralische Wende.
Sicherlich nicht über Nacht. Denn statt der angestrebten Pazifizierung der diversen interessenlagen durch das auf Lebensqualität ausgerichtete Reformwerk, begann sich eine aus zunehmenden interessenkämpfen bestehende Abwehrhaltung zu etablieren, die schließlich in eine offensive, nach und nach strukturell gefestigte Wendepolitik mündete. Die Abkehr vom Fortschrittskriterium Lebensqualität war besiegelt. So wurden ja schon früh von sogenannter konservativer Seite Gefahren der Auflösung der Dualismen von Staat und Wirtschaft, von Arbeit und Konsum behauptet. Demnach stände durch die Sozenpolitik das Leistungsprinzip auf dem Spiel, die individuelle Freiheit sei gefährdet, Formen der Dekadenz würden sich ausbreiten und das bewusstsein für Fleiß und Pflicht aushöhlen usw. Es handelte sich um weitgehend haltlose Unterstellungen und beschimpfungen, welche noch immer gebraucht werden, wenn aktuelle Einbildungen zu Äußerungen führen, der Staat würde die ganze Wirtschaft vereinnahmen oder Gewerkschaften würden die privaten Produktionsmittel in Arbeitnehmerhand überführen. Leider haben solche propagandistischen Praktiken zur Folge, etwa entstehende Effekte, die von in ihrer Existenz sozialstaatlich umfassend gesicherten bürgern auf die gestaltende Dynamik organisatorischer, konsumtioneller und technologischer innovationen ausgehen, regelmäßig ausgeblendet werden. Schließlich hält ein sozialstaatlich gewährleisteter effizienter Einsatz individueller Ökonomie ein breiteres Spektrum an Potenzialen sowohl für den Einzelnen als auch für die Gemeinschaft bereit, als eine auf unbedingten Kampfeinsatz beruhende Workfare-Politik, die vorwiegend den geistigen Horizont schon allein dadurch vernebelt, indem das Subjekt auf ein einzelgängerisches “know how”-Denken zurückgeworfen wird und sich innerhalb dieses verengten Kanals zu bewegen hat.
Knapp vierzig Jahre sind seit dem sozialliberalen Fortschrittskriterium der Lebensqualität vergangen. Statt welfare dominiert workfare. Statt einer sich wenigstens untereinander wettbewerbsfreundlich - im Sinne der ideenvielfalt - bewegenden Expertokratie, hat sich über Jahrzehnte eine Expertokratie des Marktdogmas etabliert. Von Partizipation des bürgers, der selber Antworten auf seine Vorstellungen von Lebensqualität gibt, sind wir, so scheint es, weit entfernt ... trotz web 2.0. Und wagt sich der bürger doch dazu zu äußern, dann kann er möglicherweise auf der nächsten Demonstration bekanntschaft mit dem schwindenden Knüppel schließen.
Nun, Lebensqualität ist zuallererst eine Leerformel, die besetzt sein will. Leerformeln sind auch so Wörter wie Marktwirtschaft, Eigenverantwortung oder beschäftigungsfähigkeit. Diese aufgeführten Wörter werden zu begriffen und Symbolen geformt, die längst ihren Einzug in die Sozialgesetze gefunden haben: Der Mensch habe sich eigenverantwortlich um seine beschäftigungsfähigkeit zu bemühen, um den Ansprüchen der Marktwirtschaft zu genügen. Die Deutungshoheit steht: Wer in diese Gesetze fällt, weist Defizite auf.
Wie wird auf Grundlage dieser einzig expertokratisch festgelegten Deutungshoheit die zum Symbol gemachte Lebensqualität aussehen, zumal Deutung zumindest über zwei Sprachen erfolgt - nämlich der Fach- und der Alltagssprache? Und somit unterschiedliche Verständnisse über das hoheitlich gedeutete und so fixierte Symbol bestehen könnten, wobei schließlich nicht ein einheitlich kollektives Verständnis verfügbar gemacht wird, sondern schlimmstenfalls mit einer ideologischen Fachsprache reine Manipulation und Suggestion die Folge sind.
Wie auch immer, es sollte von der vom bundestag eingesetzten Kommission zur Ermittlung sozialer indikatoren zur Messung der Lebensqualität erwartet werden dürfen, dass die vergangenen vierzig Jahre einer äußerst peniblen Analyse unterstellt werden. Denn es wäre an Ergebnissen zu zweifeln, die die Entstehungsgeschichte zu Versuchen der Wertung des begriffs der Lebensqualität ausgeblendet blieben.