Der Chefökonom – Kommentar: Eine Vier-Tage-Woche ist populär, aber unrealistisch

Demonstrierende rufen auch zur Vier-Tage-Woche auf.
Foto: dpa„Absurd, dumm und töricht“ nannte Bundeskanzler Helmut Kohl einst die Forderung, die tarifliche Wochenarbeitszeit von 40 auf 35 Stunden zu verringern – bei vollem Lohnausgleich. Sein Poltern war vergeblich. Im Sommer 1984 einigten sich die Metallarbeitgeber mit der IG Metall auf den Einstieg in die 35-Stunden-Woche.
Nun, in Zeiten des wohl größten Arbeitskräftemangels im Nachkriegs-Deutschland, versucht die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken mit dem Thema Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich bei den Anhängern und Sympathisanten ihrer Partei zu punkten. Sie beruft sich dabei auf nicht näher genannte Studien, „wonach Menschen in einer auf vier Arbeitstage reduzierten Woche effektiver arbeiten“.
Damit spricht Esken vielen Beschäftigten aus der Seele. „Freitag gehört Vati mir“, titelte jüngst der „Spiegel“. Und laut einer Umfrage des gewerkschafseigenen Instituts WSI unterstützen knapp drei Viertel der Vollzeitbeschäftigten diese Forderung – während die Gewerkschaften selbst zugeknöpft reagieren. DGB-Chefin Yasmin Fahimi betonte, die Gewerkschaften hätten selbst zu entscheiden, ob sie in einzelnen Branchen eine Vier-Tage-Woche als tarifpolitisches Ziel verfolgen wollten – eine camouflierte Absage.
Die Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass Arbeitszeitverkürzungen durchweg mit steigendem Wohlstand einhergehen. Anderenfalls würden die abhängig Beschäftigten noch immer 60 bis 70 Stunden in der Woche arbeiten, wie es im 19. Jahrhundert üblich war. Genauso richtig ist allerdings, dass die tariflich vereinbarten Arbeitszeiten in den vergangenen zwei Jahrzehnten trotz steigender Einkommen kaum mehr geändert wurden. Im Jahr 2021 arbeiteten Vollzeiterwerbstätige in Deutschland effektiv 40,5 Stunden und damit kaum eine Stunde weniger als 1991.
Ein empirischer Befund ist, dass geringere tarifliche Arbeitszeiten stets in ökonomischen Prosperitätsphasen gefordert und durchgesetzt wurden. Zu Beginn des Wirtschaftswunderjahrs 1956 wurde in der Metallindustrie die Wochenarbeitszeit von 48 auf 45 Stunden gesenkt – bei vollem Lohnausgleich. Bis 1967 folgten weitere Verkürzungen auf 40 Wochenstunden. Die Metallgewerkschaft wirkte dabei stets als Vorreiter, und die anderen Gewerkschaften folgten.
Produktivitätssteigerungen von 25 Prozent wären nötig
Mitte der 1980er-Jahre setzte die IG Metall dann den Einstieg in die 35-Stunden-Woche durch, die aber flächendeckend erst 1995 in dieser Branche umgesetzt wurde. Die Folgen waren beachtlich. Der mit dem Tarifabschluss verbundene Arbeitskostenschub löste eine gewaltige Rationalisierungswelle aus – Maschinen ersetzten wo immer möglich Menschen, Arbeitsplätze wurden in Niedriglohnländer verlagert, was durch den Fall des Eisernen Vorhangs viel einfacher geworden war.
Die Parteivorsitzende der SPD setzt sich für die Vier-Tage-Woche mit Lohnausgleich ein.
Foto: dpaDer von Esken ins Spiel gebrachte Übergang zur Vier-Tage-Woche mit vollem Lohnausgleich würde zur Kompensation des damit verbundenen Arbeitskostenschubs Produktivitätssteigerungen von 25 Prozent erfordern. Im verarbeitenden Gewerbe sind solche Produktivitätssteigerungen über einen Zeitraum von zehn Jahren denkbar, wenn man an die nicht ausgeschöpften Möglichkeiten der Digitalisierung denkt. So stieg etwa in den USA die Wirtschaftsleistung je geleisteter Arbeitsstunde von 1999 bis zum Ausbruch der Finanzkrise 2007 im Schnitt um 2,3 Prozent pro Jahr.
Dieser theoretischen Möglichkeit steht der empirische Befund gegenüber, dass das Produktivitätswachstum in den meisten entwickelten Industrieländern in den vergangenen Dekaden niedrig war. Zugespitzt formulierte es der Nobelpreisträger Robert Solow: „Computer finden sich überall – außer in den Produktivitätsstatistiken.“
Solow, der Vater der modernen Wachstumstheorie, hatte beobachtet, dass sich die steigenden IT-Investitionen der Unternehmen in den USA seit der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre nicht in einem beschleunigten Wachstum der Arbeitsproduktivität niederschlugen. Tatsächlich war im IT-Pionierland USA von den erhofften Produktivitätsschüben infolge steigender Investitionen in die Automation der Produktion lange Zeit wenig zu erkennen – im Gegenteil, die Dynamik der Produktivität ging zurück.
In weiten Teilen des Dienstleistungssektors, etwa im Pflege- und Gesundheitsbereich, in der Gastronomie oder im Einzelhandel, sind hohe Produktivitätssteigerungen ohnehin unrealistisch. Somit bedeutete eine Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich dort einen kräftigen Anstieg der Arbeitskosten – was unweigerlich zu kräftigen Preiserhöhungen führen würde, ähnlich, wie es derzeit angesichts des Arbeitskräftemangels zu beobachten ist. Zum Jahreswechsel 2022/23 wurden in Deutschland nahezu zwei Millionen offene Stellen registriert.
Ein oft verdrängter Grund für die Personalknappheit ist die seit geraumer Zeit rückläufige Vollzeitbeschäftigung. So arbeitet mittlerweile nahezu die Hälfte der erwerbstätigen Frauen in Teilzeit. Trotz der weiter gestiegenen Anzahl der Beschäftigten lag im Jahr 2022 in Deutschland das geleistete Arbeitsvolumen mit 52,77 Milliarden Arbeitsstunden 2022 faktisch auf dem Niveau von 2018, wie IAB-Daten zeigen. Arbeitszeitverkürzung findet also bereits durch die Hintertür statt, freilich ohne Lohnausgleich.
Nichts weiter als der Traum von einem Schlaraffenland
Dieser Trend wird von den Protagonisten der Vier-Tage-Woche verdrängt. Es könnte daher zu einer Wiederholung der paradoxen Entwicklung aus den 1950er- und 1960er-Jahren kommen, als die Arbeitszeit spürbar verringert wurde und gleichzeitig Millionen ausländische Arbeitskräfte angeworben werden mussten, weil das heimische Potenzial nicht ausgeschöpft wurde. Bekanntermaßen will auch heute die Bundesregierung mit einem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz die Zuwanderung forcieren.
Das ist zwar angesichts der demografischen Entwicklung kein Fehler. Doch nicht minder gefragt wären Ideen, um die Bereitschaft des vorhandenen Erwerbspotenzials zu stimulieren, mehr und nicht weniger zu arbeiten. So hätten beispielsweise die Tarifpartner die Möglichkeit, den vorhandenen tariflichen und innerbetrieblichen Spielraum für zusätzliche Überstunden zu erweitern und diese besser zu entlohnen. Die Regierung könnte die Besteuerung von Überstunden verringern. Vor allem spricht viel dafür, die bestehenden Anreize für Teilzeitarbeit, insbesondere die Minijob-Privilegien, abzubauen.
Prof. Bert Rürup ist Präsident des Handelsblatt Research Institute (HRI) und Chefökonom des Handelsblatts. Er war viele Jahre Mitglied und Vorsitzender des Sachverständigenrats sowie Berater mehrerer Bundesregierungen und ausländischer Regierungen. Mehr zu seiner Arbeit und seinem Team unter research.handelsblatt.com.
Foto: HandelsblattNicht minder wichtig wäre es, die Rahmenbedingungen für Investitionen zu verbessern, um wieder auf einen höheren Wachstumspfad zu gelangen. Dazu zählen etwa zeitgemäße Abschreibungsregeln, schnellere Genehmigungsverfahren, Energiesicherheit zu bezahlbaren Preisen sowie nicht zuletzt wettbewerbsfähige Unternehmensteuern.
Im Jahr 1930 prognostizierte der britische Jahrhundert-Ökonom John Maynard Keynes, dass die Menschen in 100 Jahren dank des technischen Fortschritts nur noch 15 Stunden pro Woche arbeiten müssten – ein gewaltiger Irrtum. Richtig bleibt jedoch, dass Arbeitszeitverkürzungen mit Lohnausgleich nur dann nicht zu einem Wohlstandskiller werden, wenn sie mit hohen Produktivitätsschüben einhergehen. Andernfalls sind sie nichts weiter als der Traum von einem Schlaraffenland.