Kommentar: Deutsche Demut als Chance für eine blühende europäische Zukunft

Die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hat gleich zu Beginn ihrer Amtszeit den europäischen Green Deal präsentiert.
Europa startet mit zwei deutschen Frauen an der Spitze in die Zwanzigerjahre: Ursula von der Leyen muss sich als Kommissionspräsidentin beweisen, und Angela Merkel übernimmt im Juli die halbjährlich rotierende EU-Ratspräsidentschaft.
Hoffentlich wird den beiden langjährigen politischen Weggefährtinnen ihr reicher gemeinsamer Erfahrungsschatz helfen, die anstehenden Herausforderungen zu bewältigen. Denn eines steht fest: Es wird wieder ein schweres Jahr für die Europäische Union.
Ginge es nach von der Leyen, dann würde der Kampf gegen den Klimawandel 2020 das beherrschende europapolitische Thema. Nach ihrem Amtsantritt Anfang Dezember präsentierte die Kommissionschefin ihren Green Deal und versprach, Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen.
Ambitionierte Ziele für eine ferne Zukunft sind schnell verkündet. Anders sieht es mit konkreten gesetzlichen Maßnahmen zur Senkung des CO2-Ausstoßes aus. Damit lässt sich Ursula von der Leyen erstaunlich viel Zeit. Erst 2021 will sie einen Gesetzentwurf vorlegen zur Reform des Emissionshandels.
Erst dann wird der Plan, Schiff- und Luftfahrt in den Emissionshandel einzubeziehen, Gestalt annehmen. Auch zur künftigen Energiebesteuerung soll es frühestens nächstes Jahr Rechtstexte aus Brüssel geben. Bis sie beschlossen sind, könnte dann noch einmal viel Zeit vergehen.
Konkret wird der europäische Klimaschutz also erst 2021. Vorher muss die Kommissionspräsidentin den Europäern erst einmal klarmachen, dass der Kampf gegen den Klimawandel nicht gratis zu haben ist. Der Übergang zu erneuerbaren Energien muss sozial abgefedert werden – vor allem in Staaten wie Polen, die noch massiv auf Kohle setzen. Die EU-Kommission will dafür einen milliardenschweren Fonds schaffen. Der Vorschlag dazu kommt im Januar auf den Tisch.
Eigene finanzielle Interessen hintanstellen
Die Kosten werden vor allem die Nettozahler der EU tragen. Insbesondere Deutschland muss sich darauf einstellen, ab 2021 deutlich mehr als bisher an den Brüsseler Haushalt zu überweisen. In den Zwanzigerjahren kommt auf die EU eine ganze Reihe neuer teurer Aufgaben zu. Die Staatengemeinschaft muss mehr für den Außengrenzschutz und für die Flüchtlingslager in Griechenland tun.
Bei der Digitalisierung werden die Europäer den Anschluss endgültig verlieren, wenn sie jetzt nicht massiv in Innovationen investieren. Auch sicherheitspolitisch steht die EU vor völlig neuen Herausforderungen. Weil sich die Europäer nicht mehr hundertprozentig auf den militärischen Beistand der USA verlassen können, müssen sie mehr für ihre eigenen Verteidigungskapazitäten tun. Vor allem für militärische Forschung benötigt die EU-Kommission mehr Geld.
Um die Beschaffung der Milliarden wird sich Bundeskanzlerin Angela Merkel kümmern müssen. Wenn sie die Ratspräsidentschaft am 1. Juli übernimmt, lässt sich die Entscheidung über den mehrjährigen EU-Finanzrahmen für die Jahre 2021 bis 2027 nicht länger aufschieben. Einstimmigkeit ist zwingend. Also gilt es, einen für alle 27 EU-Regierungschefs akzeptablen Kompromiss zu schmieden.
Gelingen kann das erfahrungsgemäß nur, wenn der (die) amtierende Ratspräsident(in) eigene finanzielle Interessen hintanstellt. Auch deshalb führt an einem höheren deutschen Nettobeitrag für den EU-Haushalt kein Weg vorbei – zumal obendrein Großbritannien als wichtiger EU-Financier ausfällt.
Der Brexit wird zum Leidwesen vieler auch 2020 wieder ein großes Thema sein. Am 31. Januar scheidet das Vereinigte Königreich definitiv aus der EU aus, doch damit ist die Brexit-Sage noch längst nicht zu Ende. Nun stellt sich die Frage, wann Großbritannien den europäischen Binnenmarkt verlässt. Laut Austrittsvertrag wäre das bereits Ende dieses Jahres der Fall.
Kein Anlass zu Überheblichkeit
In der kurzen Zeit ist ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Großbritannien kaum auszuhandeln. Ein vertragsloser Ausstieg aus dem Binnenmarkt hätte für die Wirtschaft jedoch genauso katastrophale Folgen wie der zuvor drohende ungeregelte EU-Austritt.
So wird Angela Merkel als EU-Ratspräsidentin sehr viel Energie darauf verwenden müssen, die Briten zu einer Verlängerung ihrer Mitgliedschaft im Binnenmarkt zu bewegen. Premierminister Boris Johnson lehnt es bislang ab, einen entsprechenden Antrag zu stellen.
Die EU hat ihre Geschicke zu Beginn des neuen Jahrzehnts in deutsche Hände gelegt. Daraus darf der größte Mitgliedstaat keine falschen Schlüsse ziehen: Wer führt, bestimmt nicht – jedenfalls nicht in der EU.
Zu Überheblichkeit besteht kein Anlass, im Gegenteil: Als EU-Kommissionspräsidentin musste Ursula von der Leyen viele deutsche Positionen räumen – ob es um Migration, Sozialpolitik oder um die Euro-Zone geht. Und auch die Bundeskanzlerin weiß aus Erfahrung, dass deutsche Demut durchaus helfen kann, um europapolitische Ziele zu erreichen. Schließlich ist es für Angela Merkel nicht die erste EU-Ratspräsidentschaft.





