Kommentar: Deutschland braucht nicht weniger, sondern mehr Pleiten


Ein oft zutreffender Spruch in der Politik lautet: „Wenn du nicht mehr weiterweißt, bilde einen Arbeitskreis.“ In den vergangenen Jahren ließe er sich jedoch auch so abwandeln: „Wenn du nicht mehr weiterweißt, rufe Deindustrialisierung.“
Die Angst vor dem Ausverkauf von Deutschlands bedeutendem Industriesektor ist parteiübergreifend zu einem Mittel geworden, um die eigene Wirtschaftsfreundlichkeit zu demonstrieren. „Die Industrie ist das Rückgrat der deutschen Wirtschaft“, hat inzwischen jeder Spitzenpolitiker betont – ergänzt durch Aussagen wie: „Wer das anders sieht, ist ein Deindustrialisierer.“
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Diese rhetorische Überspitzung hat längst das politische Handeln durchdrungen. So kehrt sich die Ansage ins Gegenteil um: Die Panik, mit der über die Zukunft der Industrie diskutiert wird, schadet dem Standort inzwischen mehr, als dass sie ihm nutzt.
In der öffentlich-politischen Debatte wird Deindustrialisierung mittlerweile auf andere Art definiert: Nicht mehr der Verlust signifikanter Teile des verarbeitenden Gewerbes gilt als Deindustrialisierung, sondern bereits jeder noch so kleine Rückgang in diesem Sektor wird entsprechend gebrandmarkt.
Vorweg sei klargestellt: Jeder Gedanke, Deutschland könnte sich großflächig deindustrialisieren, sich zu einer reinen Dienstleistungsgesellschaft wandeln und dabei seinen Wohlstand halten, ist nichts als eine Träumerei. Deutschland braucht eine starke Industrie.
Es kann und darf nicht alles bleiben, wie es ist
Eine starke Industrie wird in Zukunft jedoch nicht mehr dieselbe sein wie heute. Standortfaktoren verändern sich, und für viele deutsche Industrieunternehmen lässt sich nur sagen: Sie verschlechtern sich.
Der einst hohe Anteil energieintensiver Branchen wie Stahl, Chemie oder Glas spiegelte günstige Standortbedingungen wider – vor allem in Form von preiswerter Energie. Diese Zeiten sind vorbei.
Egal, wie die Energiewende noch angepasst wird: Der Trend lässt sich allenfalls abmildern, aber nicht umkehren. Ja, deutlich günstigere Energiepreise in Deutschland sind theoretisch möglich. Nein, ein Standortvorteil wird Energie hierzulande nicht mehr sein.
Auch der Einfluss der Politik auf andere Rahmenbedingungen ist vorhanden – mit viel Luft nach oben –, doch er allein ist nicht der Heilsbringer. Natürlich muss Bürokratie abgebaut und Belastungen durch Steuern und Sozialabgaben müssen reduziert werden. Das wird vielen Unternehmen, insbesondere in der Industrie, helfen. Aber nicht alle Geschäftsmodelle werden dadurch automatisch zukunftsfähig.
Subventionen können an wenigen, gezielten Stellen als Brücke dienen, bis die Rahmenbedingungen stehen. Bestimmte Produktionskapazitäten der energieintensiven Industrie müssen wir weiterhin in Deutschland halten – allein schon aus Gründen der Resilienz. Doch wer behauptet, wir müssten deshalb alles genau so weitermachen wie bisher, führt den Resilienz-Gedanken ad absurdum.
Deutschland steckt tief in der „Midtech-Falle“
Es wird Industrieunternehmen geben, die eine endlose Subventionsbrücke bräuchten. Das kann und sollte sich der Staat nicht leisten. Schließlich wird uns das am Ende Wohlstand kosten, weil wir den „Cleansing-Effekt“ blockieren: Unproduktive Unternehmen scheiden aus dem Markt aus und schaffen Raum für neue Geschäftsmodelle. Alte und neue Geschäftsmodelle zugleich werden allein schon wegen des Mangels an Arbeitskräften nicht möglich sein.


Politik und Wirtschaft müssen es gleichermaßen zulassen, dass Deutschland es aus der „Midtech-Falle“ herausschafft: Wir sind unheimlich gut im Verfeinern bestehender Technologien, aber nicht gut im Entwickeln neuer.
Gerade diese Fähigkeiten sind heute aber gefragter denn je – besonders in der Industrie. Deutschland muss also die Deindustrialisierung verhindern und gleichzeitig eine gezielte Umindustrialisierung einleiten. Nur so bleiben wir zukunftsfähig.
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