Kommentar: Die Denkfehler der Kettensägen-Fans

Es gibt wenige Geräusche, die so endgültig klingen wie ein Kolbenfresser. Erst läuft der Motor schwerfällig, dann kratzen Metallteile aufeinander, Funken fliegen – und schließlich blockiert das gesamte System mit einem letzten, verzweifelten Ruck. Nichts geht mehr. Ein Kolben, der einst mit Kraft arbeitete, steckt fest wie ein verkeilter Schlüssel im Schloss. Ein Kolbenfresser ist das mechanische Äquivalent eines Herzinfarkts für den Motor. So fühlen sich Bürger und Unternehmer immer öfter, wenn sie es mit dem Staat zu tun haben. Immer neue Regeln, immer umfangreichere Berichtspflichten – und ein Staat, der mit alledem völlig überfordert wirkt. In den vergangenen fünf Jahren hat das EU-Parlament mehr als doppelt so viele Gesetze in Kraft gesetzt wie die USA. Und auch dort kommt das System schon an seine Grenzen. Kein Wunder, dass einige jetzt die Kettensäge auspacken: Javier Milei, Donald Trump und Elon Musk wollen mit brachialer Gewalt das alte System zerschlagen. Sie prangern Korruption an, sprechen von „kriminellen Vereinigungen“ und inszenieren sich als Retter vor der „bürokratischen Tyrannei“. Das Problem? Sie liefern damit genau die Bilder, die Etatisten brauchen, die nach mehr Staat rufen. Wer für mehr Markt und weniger Regulierung eintritt, so heißt es dann, ist entweder ein durchgedrehter Libertärer (Milei) oder ein AfD-Fan (Musk). Reformen werden mit Radikalismus gleichgesetzt – und das könnten Reformgegner in Europa nutzen, gleich die ganze Bewegung in Misskredit zu bringen. Dabei ist Musks und Mileis Diagnose richtig: Bürokratie erstickt Wachstum, hemmt Innovation, blockiert Fortschritt. Gerade die EU hat hier ein besonderes Problem, weil europäische Regulatoren dazu tendieren, jeden Schritt managen zu wollen - anstatt sich auf das gewünschte Ergebnis zu fokussieren. Beim AI Act hat sich das gezeigt, ebenso beim Verbrenner-Aus. Noch schlechter lief’s in Deutschland bei der Kindergrundsicherung, die eigentlich Familienleistungen zusammenfassen und vereinfachen sollte. Das ging gründlich schief. Tatsächlich sollten nach den Plänen des Familienministeriums allein für die Auszahlung mehrere Tausend Verwaltungsstellen zusätzlich aufgebaut werden. Warum der Aufwand? Weil die deutschen Behörden kein digitales Betriebssystem, keine Plattform haben, auf der all die Anwendungen des Staates angeboten werden, anders als zum Beispiel Länder wie Dänemark, Estland oder die Ukraine. Hier braucht es eine radikale Wende. Allerdings helfen Kettensägen nicht weiter. Wenn man Tausende Behördenmitarbeiter feuert, wie Musk es tut, geht erst einmal nichts schneller, weil weniger Leute die gleiche Arbeit machen müssen. Der bessere Weg wäre eine digitale Revolution. Seit mindestens zwei Jahrzehnten organisieren die Menschen ihren Alltag digital, ihre privaten Finanzen, ihre Hauskredite, ihre Einkäufe. Wer in Deutschland aber Kontakt mit dem Staat hat, macht immer noch eine Zeitreise in die 1980er-Jahre, zu Wartenummer und Stempel. Kein Wunder, dass eine wachsende Zahl der Bürgerinnen und Bürger den Staat als überfordert erachtet, wie unsere große Analyse zum Wochenende zeigt. Tatsächlich beginnt die digitale Revolution gerade. Allerdings nicht in den Bundesministerien, sondern einige Kilometer vom Berliner Regierungsviertel entfernt in einem alten Backsteingebäude. Hier machen sich einige Dutzend Technologiegründer daran, die Aufgaben des Staates zu digitalisieren. Mit dem GovTech-Campus haben sie einen Ort geschaffen, an dem Mitarbeiter aus Behörden und Ministerien gemeinsam mit Start-ups an neuen Lösungen arbeiten: Sprachmodelle für die Wissenschaft, digitale Anwendungen für Sicherheitsbehörden. Und auch eine cloudbasierte Plattform für Daten aus dem Gesundheitsbereich ist in Arbeit. Doch eigentlich hat man dort eine größere Vision: eine digitale Plattform, über die alle Services und Dienstleistungen des Staates digital, zentral und über die Cloud verfügbar sind. Eine Art Betriebssystem für das ganze Land, an die sich Bund, Bundesländer und Kommunen anschließen können. Das klappt nie, dachte ich, als mir der Gründer Lars Zimmermann vor eineinhalb Jahren von der Vision erzählte. Tatsächlich kommt das Projekt schneller voran, als es viele für möglich hielten. Mittlerweile haben sich Bund und dreizehn Bundesländer mit Millionenbeträgen beteiligt. Längst kommen auch Interessenten aus dem Ausland nach Berlin, um von dem Ökosystem aus Technologiegründern und Bürokraten zu lernen. Warum ich Ihnen das alles erzähle? Weil das Industrieland Deutschland verstehen muss, dass die Lösung vieler Probleme Software ist. Würde die Bundesrepublik bei der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung auf das digitale Niveau Dänemarks kommen, wäre die Wirtschaftsleistung um 96 Milliarden Euro pro Jahr höher, rechnet das Ifo-Institut vor. Firmen anmelden, Ausweise verlängern, wählen und, ja, auch eine Scheidung: Es gibt keinen Grund, warum all das nicht digital möglich sein sollte. Solche digitalen Dienste werden auf dem GovTech-Campus von Unternehmen wie dem KI-Start-up Langdock, dem Beschaffungsautomatisierer ProcureAI und der Cybersecurity-Firma Neodyme entwickelt, die längst zu interessanten Anbietern auch von Unternehmenssoftware werden – auch international. Früher hat Deutschland zur Lösung jedes erdenklichen Problems eine Maschine gebaut. Heute müssen wir verstehen, dass sich viele der aktuellen Probleme nur mit Software lösen lassen. Wenn der Staat hier vorangeht, wird der Rest der Wirtschaft folgen. Mehr: „Wir rasen jetzt auf die letzte Ausfahrt zu“, sagt die neue DIHK-Chefin – 23.000 deutsche Unternehmen schlagen Alarm