Kommentar: Die schöne neue klimaneutrale Welt ist ein Hirngespinst

Ihr Anteil am deutschen Strommix soll bis 2030 auf 65 Prozent steigen.
Die Große Koalition weiß, was sie will: Der Anteil der erneuerbaren Energien im deutschen Strommix soll bis 2030 auf 65 Prozent steigen. Das könnte mit viel Aufwand gelingen, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Welt so bleibt wie sie ist. Doch davon darf man nicht ausgehen.
Denn die Verhältnisse werden sich wandeln. Strom aus erneuerbaren Quellen wird das „grüne Gold“ der industriellen Zukunft sein. Hinzu kommt ein wachsender Bedarf an grünem Strom für die Mobilität, für die Digitalisierung, ja, und auch für den Wärmesektor. Der Strombedarf wird steigen, entsprechend muss man den 65-Prozent-Anteil neu bewerten.
Strom aus erneuerbaren Quellen ist der Schlüssel zur Dekarbonisierung aller Sektoren. Entweder wird er direkt eingesetzt, etwa um E-Autos zu laden. Oder er ist der Rohstoff, aus dem sich mittels Elektrolyse klimaneutraler Wasserstoff herstellen lässt. Diesen „grünen Wasserstoff“ braucht die Industrie dringend.
Die aktuellen Prognosen und Konzepte der Politik spiegeln das nicht oder nur unzureichend wider. Es grassiert die Angst vor der Wahrheit. Vielen Fachleuten schwant, dass die angestrebte Klimaneutralität eine Nachfrage nach grünem Strom entfachen wird, die sich nur schwerlich wird befriedigen lassen.
Die eifrigen Verfechter erneuerbarer Energien verweisen zwar gerne auf die schlummernden Potenziale für die Stromerzeugung mittels Wind und Sonne. Tatsächlich gibt es sicher noch Spielräume, die man nutzen kann, ohne große Akzeptanzprobleme auszulösen.
Chemiebranche und Stahlbranche melden erheblichen Bedarf an
Doch all diese Überlegungen spielen sich auf einer Ebene ab, die rein gar nichts mit den Anforderungen zu tun hat, die aus der Klimaneutralität erwachsen. Dazu ein Beispiel: Die deutsche Chemieindustrie hat errechnet, sie benötige jährlich mehr als 600 Terawattstunden (TWh) Strom aus erneuerbaren Quellen, um klimaneutral zu werden.
Das ist elf Mal so viel wie der derzeitige Strombedarf der Branche, der 2018 bei 54 TWh lag. Allerdings stammen diese 54 TWh derzeit ganz überwiegend aus konventionellen Quellen. Auch die Stahlbranche und weitere energieintensive Industrien melden erheblichen Bedarf an.
Wer sich ehrlich macht, kommt zu dem Ergebnis, dass die schöne neue klimaneutrale Welt aus heutiger Sicht ein Hirngespinst ist. Realität kann sie nur werden, wenn die kommenden Jahre mit technischen Revolutionen gespickt sind. Oder wenn es gelingt, Importstrukturen für grüne Energie aufzubauen.
Es ist allerdings völlig unklar, welches Land Interesse und auch die entsprechenden Kapazitäten haben könnte, Deutschland mit grüner Energie zu fluten. Und eine Renaissance der Kernkraft? In Deutschland nicht machbar.
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