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  4. Ukraine-Krieg: Die strategische Schwäche des Westens

KommentarDieser 9. Mai offenbart die strategische Überforderung des Westens

Die Überforderung ergibt sich aus der Schwammigkeit des Kriegsziels Putins, aus dessen imperialen Unersättlichkeit und natürlich der Wucht der nuklearen Drohung.Jens Münchrath 09.05.2022 - 17:12 Uhr Artikel anhören

Waffen, die Putin am Nationalfeiertag stolz präsentierte, hat der Westen durch seine Ölimporte mitfinanziert.

Foto: IMAGO/SNA

Auch an diesem Jahrestag zum Sieg der Sowjetunion und ihrer Verbündeten über Hitler-Deutschland war es wie so oft in den vergangenen Monaten: riesige Erwartungen der westlichen Allianz, die sich Aufschluss über die eigentlichen Kriegsmotive des Wladimir Putin oder zumindest Hinweise über sein weiteres militärisches Vorgehen erhofft hatten.

Er würde eine Generalmobilmachung ankündigen oder der Ukraine gar offiziell den Krieg erklären, was der Mär von den „Sonderoperationen“ ein Ende setzen würde, die inzwischen die Form eines Vernichtungskriegs angenommen haben.

Nichts dergleichen hat der Krieger aus dem Kreml geliefert. Stattdessen speiste Putin seine Landsleute und die Weltöffentlichkeit mit den üblichen Lügen und Absurditäten ab. Dass der Westen etwa eine „Invasion in Russland geplant“ habe oder dass in der Ukraine dank der tapferen russischen Truppen alles nach Plan laufe.

Die Diskrepanz zwischen den westlichen Erwartungen an diesem Tag und der Realität zeigt einmal mehr die strategische Überforderung des Westens: Sie ergibt sich aus der Schwammigkeit des Kriegsziels Putins, aus dessen imperialen Unersättlichkeit und natürlich der Wucht der nuklearen Drohung.

Gegen einen Mann, der bereit ist, das Schicksal der eigenen Volkswirtschaft aufs Spiel zu setzen, der fast nach Belieben die öffentliche Meinung seines Landes manipulieren kann und der eindeutig über die Dominanz zur Eskalation verfügt, hilft nur eine geduldige auf Jahre angelegte Strategie.

Man dachte, Putin würde eine Generalmobilmachung ankündigen oder der Ukraine gar offiziell den Krieg erklären, nichts dergleichen hat der Kremlchef in seiner Rede geliefert.

Foto: dpa

Die Friedenssehnsucht in Deutschland ist groß und die Forderung nach Waffenstillstandsverhandlungen nachvollziehbar. Der Philosoph Jürgen Habermas hat das in einem fulminanten Essay zum Ausdruck gebracht. 

Die Ukraine ausliefern?

Nur: Worüber soll verhandelt werden? Dem Aggressor ein Stück Ukraine anbieten, damit er Ruhe gibt, zumindest für ein paar Monate, vielleicht auch Jahre? Ihm die Neutralität der Ukraine zusichern, was letztlich nichts anderes bedeutet, als das demokratische Land der Einflusszone von Moskaus Willkürherrschaft zu überantworten?

Aus Sicht der Ukraine müssen solche Szenarien wie ein Diktatfrieden erscheinen. Man muss gewiss nicht alle Ansichten des ukrainischen Botschafters teilen. Hier aber hat Andrij Melnyk recht.

Ein Verhandlungsfrieden, der nicht auf einen Verrat legitimer Interessen der Ukraine hinausläuft, ist vermutlich erst dann denkbar, wenn Russland konventionell militärisch und wirtschaftlich so geschwächt ist, dass es kaum eine Wahl hat, als den Rückzug anzutreten.

Nun verweisen Habermas und seine Mitstreiter immer darauf, dass eine Niederlage einer Atommacht schwer vorstellbar ist. Das mag sein. Unmöglich ist das nicht. Die Behauptung jedenfalls, dass es eine solche noch nie gegeben hätte, ist schlichtweg falsch. Siehe das Scheitern der übermächtigen USA in Vietnam oder der Sowjetunion in Afghanistan. 

Der Westen hat sich gegenüber Russland grobe strategische Fehler geleistet. Putin griff 2008 Georgien an, Öl und Gas Richtung Westen flossen weiter – sogar forciert. Putin annektierte 2014 die Krim und begann seinen kleinen „inoffiziellen“ Krieg im Donbass – und Deutschland fiel nichts Besseres ein, als im Folgejahr die Verträge für Nord Stream 2 zu unterschreiben.

Putin ließ in westlichen Hauptstädten russische Oppositionelle ermorden – und Bundespolitiker beschworen das Konzept „Wandel durch Handel“. Putin ließ in Syrien Entbindungskliniken bombardieren – und westliche Intellektuelle mahnten, endlich das unnötige Säbelrasseln gegenüber Moskau zu unterlassen.

Die Liste ließe sich fast beliebig fortsetzen. So hat der Westen letztlich auch die Hyperschallwaffen und taktischen Atomwaffen, auf die Putin so stolz ist, mitfinanziert. Niemand darf sich wundern, dass der russische Diktator den Westen für schwach hält. Denn all das schuf die Basis für die Operation Geschichtsrevision, die Putin am 24. Februar in der Ukraine begann.

Das Ziel des Westens ist nicht der Sieg über Russland. Aber Ziel ist es sicherlich, Putins imperialen Fantasien zu widerstehen – möglicherweise so lange, bis die Russen selbst sich eines Putins entledigen.

Dieser absurde Krieg kennt nur Verlierer – schon jetzt zahlt auch der Westen seinen Preis in Form von konjunkturellen Effekten und Inflationsraten, die vor einem Jahr noch niemand für möglich gehalten hätte.

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Die Strategie „Zurückhaltung und Vorsicht“ aber – in der diplomatischen Welt etwas abschätzig als Appeasement bezeichnet – ist im Falle Putin krachend gescheitert. Diese Strategie könnte den Preis des Friedens langfristig in ungekannte Höhen treiben. Denn ein wie auch immer gearteter Waffenstillstand könnte aus Sicht Putins ein taktischer sein, um wieder Kräfte zu sammeln für seine nächste Attacke im Großprojekt Geschichtsrevision.

Anmerkung: In einer früheren Version des Kommentars stand, der Ukrainekrieg habe am 24. März begonnen. Richtig ist der 24. Februar. Wir haben den Fehler korrigiert.

Mehr: Putin warnt vor erneutem Weltkrieg – und behauptet, der Westen bereite eine Invasion vor

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