Kommentar: Jackson Hole ohne EZB-Chefin: Die Welt brennt, Lagarde liest Joyce

Mit der EZB-Chefin erscheint zum Zeitpunkt der Notenbankkonferenz ein Interview, in dem es wenig um Notenbanken geht.
Christine Lagarde, die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), hat sich nicht für die Notenbanker-Konferenz in Jackson Hole im US-Bundesstaat Wyoming angemeldet. Die EZB wird dort von der deutschen EZB-Direktorin Isabel Schnabel vertreten.
Lagarde hat wahrscheinlich – und auch hoffentlich – gute Gründe, während einer Zeit hoher Inflation und steigender Rezessionssorgen nicht zur wichtigsten geldpolitischen Konferenz weltweit anzureisen. Und die EZB wird von Schnabel sicherlich kompetent und überzeugend vertreten.
Es ist eher ein Zufall, dass kurz vor Jackson Hole ein vor Wochen geführtes Interview von Lagarde mit dem französischen Magazin „Madame Figaro“ erscheint, das sich sonst eher mit Filmstars und Royals beschäftigt. Darin spricht Lagarde über ihre Lieblingsthemen, etwa die Rolle von Frauen in Führungspositionen, den Klimawandel und die Rolle der Notenbanken bei seiner Bekämpfung.
Nebenbei geht es auch um Inflation: Man könne sich nicht mehr allein auf ökonomische Modelle verlassen, sagt sie, ohne nähere Hinweise zum Kurs der EZB zu geben. Und sie spricht über sich selbst und enthüllt Erstaunliches: Sie liest zum zweiten Mal den überaus komplexen „Ulysses“ von James Joyce; wer das tut, muss schon ein sehr starkes Interesse an Literatur haben – und Zeit.
Wie gesagt, dass das Interview ausgerechnet kurz vor Jackson Hole erscheint, ist ein Zufall. Aber daraus entsteht doch eine unfreiwillige und für Lagarde nicht sehr vorteilhafte Ironie. Die Welt ist im Aufruhr, alle lauern auf neue Impulse, die von Jackson Hole ausgehen könnten – und Madame Lagarde unterhält sich mit „Madame Figaro" über James Joyce. Das kommt schon ein klein wenig abgehoben daher.
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Es bestätigt auch einen Eindruck, den Lagarde leider immer noch oft genug hinterlässt: dass sie in der Welt der Notenbanker immer noch nicht ganz zu Hause ist. Es ist eine Welt ohne Glamour, in der es um trockene Zahlen, theoretische Zusammenhänge und immense praktische Konsequenzen geht. Wo trockene Nerds versuchen, eine Welt zu verstehen, die sie selbst beeinflussen – und immer wieder auch durcheinanderbringen.
Jerome Powell ist ähnlich wie Lagarde kein studierter Ökonom. Er hat wahrscheinlich zuletzt als Chef der US-Notenbank (Fed) eine Menge Fehler gemacht. Aber er hat niemals den Eindruck hinterlassen, nicht voll und ganz der Verantwortliche für die Geldpolitik der USA zu sein. Und er ist zur letzten Konferenz im portugiesischen Sintra angereist, die das europäische Pendant zu Jackson Hole darstellt. Ob er Joyce liest, wissen wir nicht.
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