Leserdebatte: Pisa-Studie: Warum schneiden deutsche Schüler immer schlechter ab?
Die deutschen Schülerinnen und Schüler schnitten bei der internationalen Leistungsstudie Pisa so schlecht ab wie nie zuvor. Wir haben die Handelsblatt-Leserschaft gefragt: Warum rutschen die Ergebnisse seit mehreren Jahren ab, und was müsste sich ändern?
Einige Leserinnen und Leser sehen den Grund für die schlechten Resultate im Schulsystem. Es sei „hoffnungslos veraltet“, schreibt eine Leserin und nennt stellvertretend das „dreigliedrige Schulsystem, die Notengebung“ und den „Frontalunterricht“. Eine weitere Leserin ergänzt: Das Schulsystem sei „starr“ und fördere „weder Individualismus noch Fortschritt oder Innovation“.
Schwerwiegende Versäumnisse sehen einige Leser beim Staat. Dieser habe „über Jahrzehnte zu wenig investiert“. Außerdem würden die Schulen alleingelassen, beispielsweise bei der „Digitalisierung“, schreibt ein Leser. Ein anderer Leser nennt fehlende finanzielle Mittel für „Unterrichtsmaterial“ und „motivierte Lehrkräfte“. Eine Leserin stimmt zu und betont, „dass die Lehrerqualität der entscheidende Faktor ist“, um Schüler zum Lernen zu motivieren.
Auch „ein bildungsfreundliches Elternhaus“ sei Voraussetzung für Lernwille und Lernerfolg, so ein Leser. Daran mangele es, findet ein weiterer Leser und knüpft an: „Work-Life-Balance-orientierte Eltern“ gäben ihren Kindern eine „Leistungsfeindlichkeit“ weiter, statt „bei den Kindern Spaß daran“ zu vermitteln, „etwas zu leisten“. Einige Leser merken an, dass vielen Kindern außerdem mangelnde Deutschkenntnisse im Weg stünden. Ein Leser schlägt daher vor, mit der Einschulung zu warten, bis ausreichende Kenntnisse vorliegen, ältere Kinder könnten in „Chancenklassen“ vorbereitet werden.
Für die aktuelle Ausgabe unseres Leserforums haben wir aus den unterschiedlichen Zuschriften eine Auswahl für Sie zusammengestellt.
Bildung ist der wichtigste „Rohstoff“
„Ich glaube, das größte Problem ist das Mindset in der Politik in Bezug auf Bildung. Als Hightech-Land ohne Rohstoffe ist Bildung der wichtigste Rohstoff, um zukunftsfähig zu sein. Zu wenige Lehrer, zu schlechte Ausbildung, ein wenig motivierendes Umfeld für Lehrer und ein Rückstand in der Digitalisierung der Schulen sind dann die Symptome, wenn man über Jahrzehnte zu wenig investiert.
Die Politik muss aufwachen und Ausgaben für Bildung als Investition sehen! Der Wohlstand soll doch erhalten bleiben, oder? Dann müssen die nächsten Generationen auch zukunftsfähig sein! Mein Vorschlag wäre eine Investitionsoffensive! Den Begriff Sondervermögen mag ich überhaupt nicht.“
Volker Schulz
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Abitur in diesem Jahr gemacht
„Ich selbst habe mein Abitur dieses Jahr erst an einem Spätberufenen-Gymnasium abgeschlossen, und selbst unter beinahe ausschließlich volljährigen Schülern war hier ein Trend ganz deutlich zu erkennen: Während des Homeschoolings in der Coronapandemie hat halt niemand so wirklich aufgepasst.
Dass diese Lücken gerade für jüngere, sich noch in der Findungsphase befindlichen Schüler nur sehr schwierig wieder aufzuholen sind, glaube ich gerne. Auch die Haltung einiger meiner Lehrer, die Nachzüglern sofort einen ‚Kann nichts‛-Stempel aufdrückten und leider auch oft einen dementsprechenden Unterton im Umgang mit besagten Schülern anschlugen, dürften nicht zwingend zu einer Steigerung von deren Selbstbewusstsein geführt haben, sich überhaupt zuzutrauen, dass man diese Lücken auch wieder schließen kann.
Da ergab sich in Folge eine deutliche Schere zwischen der Gruppe, zu der auch ich mich zähle, die sich eben eine oder zwei Stunden mehr hingesetzt hat, um alles Verpasste aufzuholen, und der anderen Gruppe, die nur noch auf ‚irgendwie durchkommen‛ spekuliert hat. Vielleicht wäre also eine einfache Veränderung der Grundeinstellung aller Beteiligten schon mal ein erster Schritt in die richtige Richtung.“
Johanna Frech
Nein, ein Whiteboard ist keine Innovation des Schulsystems
„Uns ist allen bewusst, wie sehr sich die Welt, wie sehr sich unser Leben in der Zeit seit 2015 verändert hat. Nicht verändert hat sich hingegen das Schulsystem. Von Schülern wird erwartet, mit der Zeit zu gehen, innovativ zu sein und das ‚Altbewährte‛ zu achten.
Gleichzeitig werfen wir sie in ein starres Schulsystem, welches weder Individualismus noch Fortschritt oder Innovation kennt – und nein, die Tafel durch ein Whiteboard zu ersetzen ist keine Innovation des Schulsystems.
Solange wir die Leistung und das Können der Schüler anhand eines starren Notensystems bewerten und nicht individuell auf die Stärken des Individuums eingehen, wird ein besseres Abschneiden nicht zu erwarten sein.“
Theresa Maak
Lehrerpersönlichkeit ist entscheidend
„In den Nullerjahren gab es die berühmte Hattie-Studie von einem neuseeländischen Bildungsforscher, der in einer Metastudie Bildungserfolg untersuchte. Die zeigte ziemlich eindeutig, dass die Lehrerqualität der entscheidende Faktor ist. Interessanterweise war nicht die Frage, wie ‚pädagogisch wertvoll‛ der Unterricht ist, sondern wie mitreißend die Lehrerpersönlichkeit ist.
Kleinere Klassen waren nicht zwingend erfolgsentscheidend, aber schwächere Lehrer tun sich natürlich in kleineren Klassen deutlich leichter. Also lasst uns unserem angestammten Lehrpersonal das Leben leichter machen.“
Astrid Neubauer
Deutsche Selbstüberschätzung
„Ich denke, dass wir in Deutschland leider oft dazu neigen, uns ‚zu gut‛ zu sehen. Pisa hat uns nun wieder die Realität vor Augen geführt, die nicht wirklich überraschend ist. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Schulen zwar öffentlichkeitswirksam Tablets zugesprochen werden, dass sie mit den Folgekosten und -arbeiten aber alleingelassen werden.
Aber es fehlt ja auch an Grundfähigkeiten wie Lesen, Rechnen und Schreiben. Dazu kann ich sagen, dass ich Schulen kenne, die sich doch sehr strecken müssen, um finanziell über die Runden zu kommen. Der Staat macht letzten Endes eben für die Schulen nicht das Geld locker, das benötigt wird für eine ausreichende Zahl an motivierten Lehrkräften und Unterrichtsmaterialien.“
Frank Moos
Ausreichende Deutschkenntnisse
„Meine Forderung, ‚begin the begin‛, wären zwingend gute Deutschkenntnisse vor der Einschulung. Daraus folgt, dass die Kinder ein Jahr im Kindergarten sein müssten. Ältere sollten in ‚Chancenklassen‛ so lange vorbereitet werden, bis sie ausreichende Deutschkenntnisse erworben haben.“
Werner Marquardt
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Schule ist hoffnungslos veraltet
„Das deutsche System ‚Schule‛ ist hoffnungslos veraltet: dreigliedriges Schulsystem, Notengebung nach der Gauskurve, Frontalunterricht und vieles mehr. Man sollte sich erfolgreiche Beispiele im Ausland ansehen und passende Best-Practice-Modelle auf Deutschland übertragen. Mehr Lehrer einstellen und eine bessere Lehrerausbildung schaffen kann man dann immer noch in den Blick nehmen.“
Inge Wienert
Ressourcen für Förderungen
„Viele Kinder werden im Alter von vier Jahren auf Sprachkompetenz (Verstehen und Sprechen) in der deutschen Sprache getestet. Bei erheblichen Defiziten ist die Teilnahme an einer Sprachfördergruppe in einer Kita bis zum Schulbeginn verpflichtend, die Teilnahme wird mit dem Kindergeldbezug verknüpft. Die Aufnahme in die Grundschule erfolgt nur bei ausreichender Sprachkompetenz. Eine Versetzung aus der Eingangsklasse der Grundschule erfolgt nicht automatisch, sondern setzt das Erreichen von altersgemäßen Mindeststandards in Deutsch und Mathematik voraus.
Die Kitas und Grundschulen müssen für die intensive individuelle Förderung personell und strukturell ausgestattet werden, um die Eltern in geeigneter Form in die Sprach- und Lernförderung einzubeziehen.“
Diego Rieland
Von Störchen und Geburten
„In der öffentlichen Diskussion wird nicht hinreichend zwischen Kausalkonnex und Koinzidenz differenziert. Familieneinkommen und für die Bildung bereitgestelltes Geld ergeben nicht automatisch bessere Bildungsergebnisse, auch wenn sich durch eine statistische Parallelität dieser Faktoren diese Begründung aufzudrängen scheint.
Verdrängt wird dabei die Frage, warum Schülerinnen und Schüler lernen können und wollen – und warum nicht. Notwendig für den Lernerfolg sind ein bildungsfreundliches Elternhaus, in dem der Bildungsweg der Kinder fördernd begleitet wird, und die Lernmotivation der Kinder. Dieses sind die Stellschrauben, an denen gedreht werden muss. Finanzielle Möglichkeiten können dabei helfen, sie sind Mittel, aber nicht Ursache.
Ein Vergleich, um die in der Öffentlichkeit verkürzte Diskussion aufzuzeigen, ist folgendes Beispiel: In Schleswig-Holstein ging nach dem Zweiten Weltkrieg die Anzahl der Störche zurück, parallel dazu auch die Anzahl der Geburten. Welchen Schluss könnte man daraus ziehen? Richtig wäre es, die Industrialisierung und Flurbereinigung in der Landwirtschaft für den Rückgang der Störche verantwortlich zu machen und den Geburtenrückgang als Zeichen einer industrialisierten Gesellschaft einzuordnen. Es lohnt sich also, den Kausalkonnex wirklich aufzuweisen, um ergebnisorientiert Mittel einsetzen zu können.
Lernmotivation wird übrigens schon sehr früh geweckt. Wenn man manchmal nur schwer einen Einfluss auf die Eltern hat, ist die Wirkung eines guten Kindergartens immens. Kompetente Lehrerpersönlichkeiten prägen das spätere Lernverhalten in der Schule.“
Peter Duryn
Fordern, nicht nur fördern
„Der entscheidendere Faktor ist meiner Meinung nach die generelle Leistungsfeindlichkeit in der Gesellschaft, die von Work-Life-Balance-orientierten Eltern an ihre Kinder weitergegeben wird.
Das Verbot von Bundesjugendspielen sagt alles. Wenn auf Gymnasien einerseits von großem Stress gesprochen wird, andererseits aber Hausarbeiten und Klausuren eher ein Fremdwort sind, wie ich als Vater von drei aktuell und ehemals schulpflichtigen Söhnen erfahren musste, sollte man weder Lehrermangel noch Migration als Feigenblatt vor sich hertragen.
Zunächst sollte bei den Kindern Spaß daran vermittelt werden, etwas zu leisten. Also auch fordern, nicht nur fördern, und das sollte bitte auch von den Eltern aus dem Work-Life-Balance-Zeitalter unterstützt werden.“
Stefan Hölscher
Wir sind zwei pensionierte Lehrer
„Es schreiben Ihnen eine pensionierte Lehrerin und ein pensionierter Lehrer mit zusammen 70 Jahren Unterrichtserfahrung in der Sekundarstufe eins und zwei, der Primarstufe und dem berufsbildenden Bereich.
1. Kinder dürfen erst mit ausreichenden Deutschkenntnissen eingeschult werden.
2. Länderhoheit zum Thema Bildung muss aufgehoben werden (16 Bürokratien, 16 Bildungspläne etc.)
3. Kultusministerkonferenz abschaffen, Bildungskompetenzzentrum mit Weisungsbefugnis beim Bund schaffen.
4. Von Anfang an Praxis in der Schule für Lehramtsstudenten, Referendariat deutlich verkürzen.
5. Quereinstieg in die beruflichen Schulen ohne Referendariat und langes Studium ermöglichen und zusätzlichen finanziellen Anreiz bieten für Menschen, die Berufserfahrung mitbringen.“
Susanne Kuhlke Eisbrenner und Axel Eisbrenner
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Mehr: Wie erreichbar die Klimaziele mit und ohne Atomkraft sind, darüber diskutierte vergangene Woche die Handelsblatt-Leserschaft.





