Kommentar: VW will Werke schließen – an dem Plan überrascht der Zeitpunkt

Der 2. September 2024 stellt für Volkswagen eine Zäsur dar. Erstmals in der 90 Jahre alten Historie des Autokonzerns hat mit Oliver Blume ein Vorstandsvorsitzender öffentlich erwogen, ein deutsches Werk zu schließen. Einen derart großen Knall hat man in Wolfsburg seit den Nachwehen des Dieselbetrugs nicht mehr gehört. Der Fall ist anders. Doch die Wucht ist vergleichbar.
Beide Male geht es um den Abstieg des größten deutschen Unternehmens im größten deutschen Industriezweig. Ein Unternehmen, von dem die Leute auf der Straße annehmen, dass es immer da sein wird. Volkswagen – das ist too big to fail, meint man. Und doch taumelt der VW-Riese schon eine ganze Weile. Das ist allen Beteiligten in Wolfsburg nicht erst seit gestern klar.
Das eigentlich Überraschende am 2. September 2024 ist deshalb weniger die Tatsache, dass erstmals ein deutsches VW-Werk öffentlich infrage steht. Es ist die Tatsache, dass dieser Tag nicht schon viel früher gekommen ist.
Die Strukturprobleme bei VW sind seit Jahren offensichtlich: Die Pkw-Kernmarke hat, verglichen mit Wettbewerbern, exorbitant hohe Produktionskosten. Umgekehrt rechtfertigt das Produkt dahinter für viele Käufer nicht den hohen Preis – gerade in der Elektromobilität.
Hohe Kosten schon vor Jahren sichtbar
Schon vor zehn Jahren übergab Betriebsratschef Bernd Osterloh (mittlerweile im Ruhestand) Vorstandschef Martin Winterkorn (ebenfalls im Ruhestand und aktuell wegen der „Dieselthematik“ vor Gericht) einen 400 Seiten starken Ordner. Darin: Ideen von VW-Mitarbeitern, mit denen sich fünf Milliarden Euro einsparen ließen, ohne am Ende allzu viele Leute entlassen zu müssen. Passiert ist seitdem wenig.
Im Gegenteil: Aus den fünf Milliarden sind inzwischen zehn Milliarden geworden, die die Marke VW einsparen muss. Wahrscheinlich wird die Summe bald noch höher. Auch im Personalumfang hat der Autokonzern immer weiter zugelegt, von damals fast 600.000 auf mittlerweile 680.000 Beschäftigte. Wenn VW ein Patient wäre, wie es in der Branche und im Unternehmen gerne heißt, dann einer, der zuletzt nach dem Fitnessstudio häufiger Halt bei McDonald’s gemacht hat.
Neben den Kosten, die immer höher werden, gab es auch strategische Schnitzer: VW hat nach dem Dieselbetrug erst sehr zögerlich und unter Blumes Vorgänger Herbert Diess dann sehr überschwänglich auf den Pfad der Elektromobilität gesetzt. Dem Pfad zu folgen war richtig, die Umsetzung an entscheidenden Stellen schlampig.
Die Fahrzeugplattform MEB, auf der heute die meisten Elektroautos von VW stehen, gilt selbst intern als bedingt wettbewerbsfähig und muss demnächst aufgefrischt werden. Auch die Software in den Autos wird sukzessive durch Partnerlösungen, die man mit Externen entwickelt, abgelöst.
In China, wo mittlerweile gleich viele Verbrenner wie Elektrofahrzeuge und Hybride herumfahren, hat VW durch seinen technischen Rückstand schon den Anschluss verloren und musste vergangenes Jahr die Marktführerschaft an den lokalen Konkurrenten BYD abgeben.
Auch der Markt in Europa wird kleiner, die Überkapazitäten in den VW-Werken werden dadurch größer. Wie schnell dann eine Werksschließung Thema sein kann, lässt sich derzeit gut in Brüssel bei Audi beobachten, wo das Management harte Schnitte prüft und umsetzen will. Die Ankündigung in Deutschland, so groß das Beben ist, ist eigentlich nur der nächste logische Schritt.
Konzernchef Oliver Blume und sein Markenchef Thomas Schäfer, die wenig für die Fehltritte ihrer Vorgänger können, stehen nun vor der Herausforderung, ihre Ankündigungen konsequent umzusetzen. Denn noch ist es alles andere als ausgemacht, dass in wenigen Jahren wirklich ein VW-Werk im Heimatland des Autos schließen wird.
Aus drei Gründen:
- Da ist einmal das Zwischenmenschliche. Der sonst als freundlich geltende Konzernchef Blume muss nun in den Konflikt mit der Belegschaft und dem Betriebsrat. Kein einfacher Rollenwechsel für den Automanager, der es bislang kooperativ versuchte.
- Der zweite Grund sind die Tarifverhandlungen, die im Herbst bei VW anstehen und die VWs Sparpläne ziemlich durcheinanderwirbeln dürften. Sieben Prozent mehr Geld fordert die Gewerkschaft vom Autoriesen. Mit der Ankündigung, die Jobgarantie zu streichen und Werksschließungen zu erwägen, hat das Management um Blume zwei Pflöcke in der Verhandlung in den Boden gerammt, die sich gegen einen Kompromiss wieder herausziehen ließen. Der könnte vereinfacht gesagt so aussehen: „Ihr verzichtet auf mehr Geld, und wir nehmen drastischere Maßnahmen vom Tisch.“ Zum Beispiel Werksschließungen.
- Nicht zuletzt könnte VW einmal mehr über seine eigenen Strukturen stolpern. Vor allem die Besetzung im Aufsichtsrat macht Werksschließungen, vorsichtig formuliert, schwierig. Die Arbeitnehmervertreter verfügen in dem mächtigen Gremium zusammen mit dem Land Niedersachsen über eine Mehrheit. Niedersachsens Landesvater Stephan Weil hat bereits seine Bauchschmerzen zur W-Frage bekundet. Auch Betriebsrats-Chefin Daniela Cavallo kündigte Widerstand an und sagte, mit ihr werde es keine Werksschließungen geben.
So könnte die Welt bei VW nach dem 2. September am Ende womöglich doch wieder so ähnlich aussehen wie zuvor.