Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,
süßer die Glocken nie klingen: Wie wohltuend ist es, die aktuellen Beschwörungen von Blue-Chips-Unternehmen zu hören, sie hätten dem gierkapitalistischen Shareholder-Value Adieu gesagt und setzten nun ganz auf Stakeholder-Value. Tatsächlich scheint der Korrekturbedarf enorm zu sein und vielleicht läuft auch eine ziemlich große PR-Show. Zwischen 2006/2007 und 2016/2017 jedenfalls haben die deutschen börsennotierten Unternehmen die Zahl der Ausbildungsplätze um neun Prozent reduziert, wie das Wissenschaftszentrum Berlin (WBZ) in einer Studie ermittelte. Dividende war hier wichtiger als Bildung. In den Großunternehmen ohne gehandelte Aktien stieg die Zahl der Lehrstellen dagegen um 17 Prozent. „Gerade in den Unternehmen, die der Kapitalmarkt-Logik unterliegen, wird zunehmend weniger in die Ausbildung investiert“, konstatieren die WBZ-Autoren in unserer Titelgeschichte im Blatt – man liest die Trauer darüber förmlich mit.
Die Lehr-Lethargie von heute ist der Fachkräftemangel von morgen. Dieses Defizit ist eine Stolperfalle für die deutsche Wirtschaft und so treffen ihre Repräsentanten heute in Berlin mit Gewerkschaftsvertretern und der Bundesregierung zum „Fachkräftegipfel“ zusammen – eine jener Konferenzen, die suggerieren sollen, dass ihre Teilnehmer wie gute Alpinisten am Berg alles im Griff haben. Arbeitsminister Hubertus Heil von der Tiefebenen-Partei SPD, die weit weg ist von irgendeinem Gipfel, fordert von der Wirtschaft eine Anwerbestrategie: „Sie muss uns sagen, in welchen Ländern sie für welche Branchen auch Fachkräfte anwerben will.“ Bei dem Top-Treffen im Kanzleramt geht es insgesamt darum, wie das am 1. März in Kraft tretende „Fachkräfteeinwanderungsgesetz“ trotz seines King-Kong-Namens schnell wirken kann.
Die Unterscheidung, was Wahrheit, Halbwahrheit, Viertelwahrheit oder Unwahrheit ist, gerät in den politischen Wahlkampagnen dieser Tage in den Schredder. Es siegt, wer Desinformation am geschicktesten betreibt. Unabhängige Journalisten stören da nur, und so wundert es nicht, dass Boris Johnson, der so glorreich gewählte Premier, gleich in den ersten Tagen nach dem Triumph Jagd auf die öffentlich-rechtliche BBC macht. So will der Konservative all jene „entkriminalisieren“ und von Strafe freistellen, die die vorgesehene Rundfunkgebühr nicht zahlen – hier drohe, so die BBC, ein Schaden von 200 Millionen Pfund im Jahr. Auch boykottiert Johnson im BBC-Imperium inzwischen das Programm „Today“ von Radio 4, das es auf ihn abgesehen habe. Gustav Freytag hatte eine klare Meinung zu solchen Manövern: „Alle Welt klagt über den Journalismus, und jeder möchte ihn für sich benutzen.
Johnsons ungeniertem Zugriff auf die Macht steht bei der britischen Oppositionspartei Labour der beginnende Kampf um die Führungsspitze gegenüber. Wahlverlierer Jeremy Corbyn hat einen Suchprozess angeregt, der Ende März zur Wahl des Nachfolgers führen soll. Solange versucht er das Unmögliche, nämlich neben Johnson zu bestehen. Hinter den Kulissen stellt sich Rebecca Long-Bailey als Favoritin heraus, die Schattenministerin für Wirtschaft, Energie und Industrie. Wer immer es werde, müsse all die Attacken kontern, „die von Johnson und Donald Trump kommen“, erklärt die Labour-Spitzenfrau Diane Abbott. Eine Entschuldigung für das Wahldesaster kam übrigens nicht von Corbyn, sondern von Schattenkanzler und Wahlkampfmanager John McDonnell: „Wenn jemand die Schuld hat, dann bin ich es, Punkt.“
Ein Konkurrent habe ihn ausschalten wollen, damals in einer Krisenlage im Energiekonzern Innogy, und auch das Mittel eines Säureattentats auf die Augen sei ihm dabei recht gewesen: Finanzvorstand Bernhard Günther redet in unserer aktuellen Ausgabe ausgiebig mit meinem Kollegen Jürgen Flauger über jenen Tag im März 2018, als ihn zwei Männer nach einer Joggingrunde in seinem Wohnort Haan attackierten. Als Auftraggeber hat der Manager eine konkrete Person in Verdacht, die erpicht auf seinen CFO-Job gewesen sei. Da es jedoch nur „Hinweise, aber offenbar noch keine zwingenden Beweise“ gebe, hält sich Günther mit einem Namen zurück. Dass ein Tatverdächtiger wieder aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, ist für den Innogy-Mann ein Fehler: Er hat den Staatsanwalt aufgefordert, Beschwerde gegen die Freilassung einzulegen.
Je schwächer die Leistung des Fußballers Mesut Özil wird, desto stärker wird sein politisches Mitteilungsbedürfnis. Per Twitter und Instagram hatte er moniert, die muslimische Gemeinschaft würde sich zu wenig um das Schicksal der Glaubensbrüder in der chinesischen Provinz Xinjiang kümmern: „Korane werden verbrannt, Moscheen geschlossen, Gelehrte getötet.“ Der Klub Arsenal London, der in China Restaurants plant, distanzierte sich sofort von dem Solo seines bestbezahlten Akteurs. In der Volksrepublik selbst verschwand gestern wie von Zauberhand die angekündigte TV-Übertragung des Arsenal-Heimspiels gegen Manchester United vom Spielplan. Özils Team verlor im Übrigen 0:3, er selbst wurde nach einer deprimierenden Stunde ausgewechselt, ganz ohne Pekinger Parteieinfluss.
Hans-Jürgen Jakobs
Senior Editor
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