Morning Briefing Strategie Notbremse in der Corona-Politik
Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,
wer Hoffnung sucht vor diesem Wochenende, wird sie vielleicht in der aktuellen Nachricht von Jens Spahn finden: Vom heutigen Freitag an werde wieder mit dem Vakzin von Astra-Zeneca geimpft, teilt der Bundesgesundheitsminister mit. Zuvor hatte die Europäische Arzneimittelbehörde die Sicherheit der Anti-Covid-19-Arznei bestätigt, allerdings auf eine Extra-Warnung vor möglichen seltenen Fällen von Blutgerinnseln in Hirn-Venen gedrungen. Solche Fälle waren in einigen Ländern bekannt geworden.
Die Lage im Volk ist inzwischen so, dass nach einer Schnellprüfung wohl auch der früher bespöttelte Impfstoff Sputnik V aus Russland freudig akzeptiert würde. Hessen, Hamburg, Sachsen-Anhalt und Sachsen liegen über dem 100er-Inzidenz-Grenzwert, Thüringen nähert sich der 200er-Marke an. Die nahe Zukunft: Strategie Notbremse. Schon gibt es wieder Hotspots wie Schwäbisch Hall, wo auch am Tage Ausgangssperre gilt. All diese News wollen überhaupt nicht zur vorösterlichen Freude auf eine Lockerung des Lockdowns passen.

Der neue Corona-Realismus trifft auf eine ohnehin leidende Wirtschaftslandschaft mit vielen erschöpften Unternehmern. Einige von ihnen porträtieren wir in unserem Wochenendtitel. Es sind diejenigen, die nicht irgendwas mit Algorithmen machen oder im China-Boom stecken. Die kein Kursfeuerwerk feiern und immer brav deutschen Mittelstand abgebildet haben. Sie stehen im Regen oder Schnee, je nachdem.
- Da ist Anna-Maria Fäßler, deren Fünf-Sterne-Hotel „Sonnenalp“ bei Sonthofen seit fast fünf Monaten dicht ist. Eine „unerträgliche Situation“, sagt die Hotelfrau in vierter Generation. Ihre Kennziffern: 6,5 Millionen Euro Verlust, eine Million öffentliche Hilfszahlung.
- Da ist Roland Mack, 71, Herr über den badischen „Europa-Park“. Die jüngsten Corona-Beschlüsse aus Berlin sind für ihn ein Offenbarungseid: „Die gesamte Last wird auf die Wirtschaft abgeladen, während die Regierung ihre ureigenen Aufgaben – sei es Testen, Impfen, Ausgleichszahlungen, Erarbeiten von Perspektiven – nicht auf die Reihe bekommt.“ Sein Lebenswerk ist in Gefahr.
- Und da ist Tom Koperek, Veranstaltungsunternehmer bei der Zeche Zollverein in Essen, dem Unesco-Weltkulturerbe. Der letzte große Event hier war im März 2020. „Seitdem sind wir im Dornröschenschlaf“, sagt Koperek, der mit Live-Streaming nur kleine Erlöse einfährt. Seine Klage: „Der Staat hat uns Berufsverbot erteilt, aber wir Unternehmer bleiben auf den Verlusten sitzen.“
Fazit: Die Marktwirtschaft ist zur Wutwirtschaft geworden.

Der Frust über das Virus, das mutiert, und die Politik, die nicht liefert, drückt nicht nur auf die Stimmung. Er verstärkt auch die wirtschaftliche Flaute. Schon senkt das Handelsblatt Research Institute (HRI) das deutsche Wachstumsziel für 2021 auf 2,7 Prozent. So richtig wird sich die Wirtschaft demnach erst im nächsten Jahr erholen.
HRI-Präsident Bert Rürup: „Vielen Konsumenten fehlte es in den vergangenen Monaten nicht an Geld, sondern schlichtweg an Konsummöglichkeiten.“ Andere Forschungsinstitute, mit längeren internen Abstimmungsprozessen, sind noch bei Prognosen von drei Prozent und mehr. Aber überall kommt die Botschaft an: Der Aufschwung lässt auf sich warten, weil die Pandemie noch immer nicht bewältigt ist.
Die schwarze Serie von ethischen Problemen von Parlamentariern in der Union hält an. Nun meldet sich der CSU-Bundestagsabgeordnete Tobias Zech wegen möglicher „Interessenkollisionen“ ab – und legt sein Parlamentsmandat und seine Parteiämter nieder. Die Begründung klingt vertraut aus den letzten Tagen: Schutz der eigenen Familie.
Zech war 2016 mit seiner Beraterfirma im Wahlkampf in Mazedonien für die konservative Regierungspartei dort aktiv gewesen, nahm parallel in dem Land aber auch einen Wahlkampftermin als Abgeordneter wahr. Erst jetzt, im Licht der aktuellen Debatte, erkennt der Christsoziale, wie schwierig hier Grenzen zwischen Politik und Eigennutz zu ziehen sind.
In der Maskenaffäre wehrt sich der bayerische CSU-Landtagsabgeordnete Alfred Sauter gegen alle Vorwürfe. Bei den Geldern für die von ihm als Anwalt erstellten Vermittlungsverträge sei immer klar gewesen, dass sie gemeinnützigen Zwecken zufließen sollten. Jetzt fragt sich die „Süddeutsche Zeitung“, warum eine offenbar aus seiner Quelle stammende Spende über 470.000 Euro erst in den ersten März-Tagen an eine Bürgerstiftung im Landkreis Günzburg ging – nach Auffliegen der Masken-Affäre.

Lange hat es gedauert, aber nun hat der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki doch ein Gutachten zum Umgang mit Missbrauchsfällen im Erzbistum Köln veröffentlichen lassen. Eine andere Studie hielt er unter Verschluss. Die Arbeit des Strafrechtlers Björn Gerckens ergibt tatsächlich die völlige Unschuld Woelkis, wohl aber Fehlverhalten des Weihbischofs und eines Offizials, die mit sofortiger Wirkung von ihren Aufgaben entbunden sind.
Hamburgs Erzbischof Stefan Heße, von 2006 bis 2014 in Köln aktiv, hat seinen Rücktritt angekündigt. Er wird in dem Gutachten mit elf Pflichtverletzungen geführt. Der einstige Kölner Generalvikar Norbert Feldhoff wiederum erklärt, sich aus dem Priesterrat zurückziehen zu wollen. Die meisten Pflichtverletzungen sieht der Gutachter bei dem 2017 verstorbenen Kardinal Joachim Meisner – ein Toter als „Sündenbock“. Sicher ist: In Köln wurde systematisch vertuscht. Angesichts dieser Enthüllungen in eigener Sache bleiben Katholiken nur Stoßgebete gen Himmel.
Mein Kulturtipp zum Wochenende: die schwedische TV-Serie „Blinded“. Sie macht dort weiter, wo das in Deutschland beliebte Werk „Bad Banks“ aufhört. Die Story über den Zusammenbruch eines Finanzinstituts, angelehnt an den realen Crash der HQ Bank 2010, läuft im Free-TV-Sender One und ist in der ARD-Mediathek zu finden.
Erzählt wird die Geschichte aus dem Finanzkapitalismus mittels der Amour fou des Bankchefs zu einer Journalistin, die den riesigen Bilanzbetrug des Geldinstituts aufdeckt. Beide sind von ganz unten aufgestiegen. In „Blinded“ ist – jenseits mancher Klischees – einiges über Trading und Finanzaufsicht zu lernen, aber auch über eine Klassengesellschaft, an deren Dünkel alle Postulate von Diversität scheitern.
Und dann ist da noch Clemens Tönnies, Fleischfabrikant aus Rheda-Wiedenbrück, der schon für so viele Schlagzeilen gesorgt hat: Rekordumsätze, Krieg mit seinem Neffen Robert, Corona-Skandal, Zampano auf Schalke. Die aktuelle Meldung aus seinem Imperium klingt wie der Anfang vom Ende eines unternehmerischen Lebens, das irgendwie immer „bullish“ war.
Nun sondiert Familie Tönnies angeblich den Verkauf, eine Erlössumme von vier Milliarden Euro ist im Gespräch. In den nächsten Wochen soll mit möglichen Bietern wie Tyson Foods aus den USA, JBS SA aus Brasilien und der chinesischen WH Group geredet werden. Die deutsche Unternehmerschaft würde eine streitbare Führungsfigur verlieren. Aber vielleicht denkt Tönnies ja noch mal über die Worte von Henry Ford nach: „Es gibt mehr Leute, die kapitulieren, als solche, die scheitern.“
Ich wünsche Ihnen ein entspanntes, mutmachendes Wochenende.
Es grüßt Sie herzlich
Hans-Jürgen Jakobs
Senior Editor
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