Morning Briefing: Wochenende der Entscheidung für Biden – Debatte über Ersatzkandidatin Harris
Streit um den Bundeshaushalt: Zielmarke Freitag, sieben Uhr
Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,
es ist eine sehr deutsche Einladung, die da gestern an die Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion rausging: Sondersitzung am Freitagmorgen um 7 Uhr, „ein kleiner Imbiss steht bereit“, Zuschaltung per Webex „nicht möglich“. Fehlt nur noch die gemeinsame Frühgymnastik vorher. Und natürlich die Einigung der Ampel-Spitzen auf den Bundeshaushalt 2025. Denn dieser Haushaltskompromiss soll den SPD-Abgeordneten am Freitag nahegebracht werden. Es bleiben also noch rund 24 Stunden für eine Einigung.
„Manchmal geht man über die Schmerzgrenzen ja erst, wenn man die Zielgerade im Blick hat. Jetzt haben wir sie im Blick“, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) am gestrigen Mittwoch. Bis zuletzt wurde noch um die Einsparungen im Haushalt gerungen. Worauf es dem Vernehmen nach hinausläuft: Die Schuldenbremse wird eingehalten. Stattdessen soll die Finanzlücke von ursprünglich gut 25 Milliarden Euro über andere Wege fast geschlossen sein, mit Einsparungen in den Einzeletats sowie verschiedenen kleineren Haushaltsumbuchungen.
Unter dem Titel „Dynamisierungspaket“ arbeiten Scholz, Habeck und Finanzminister Christian Lindner (FDP) zudem an Maßnahmen, die das Wachstum um mindestens 0,5 Prozentpunkte pro Jahr ankurbeln sollen. Darunter: Vereinfachungen beim Vergaberecht, über die in der Ampel ohnehin schon Konsens bestand und ein verschlanktes Lieferkettengesetz, wogegen es aber Widerstand in den Fraktionen von SPD und Grünen gibt. Um Unternehmen gezielt zu entlasten, ist eine Verlängerung großzügigerer Abschreibungsregeln im Gespräch, die die Ampel befristet eingeführt hatte.
Fazit: Ein großer Befreiungsschlag dürfte der Haushalt 2025 nicht werden, dafür gibt es zu viele Sachzwänge und rote Linien. Aber tatsächlich kommt es inzwischen weniger auf den Inhalt des Haushaltspakets an, als vielmehr darauf, dass die Ampel tatsächlich bis Freitagmorgen liefert – und Bundeskanzler Olaf Scholz damit unter Beweis stellt, dass seine Koalition noch kompromiss- und handlungsfähig ist.
Handlungsfähigkeit versucht auch US-Präsident Joe Biden unter Beweis zu stellen. Insidern zufolge hat er sich bei einem Telefonat mit seinem Wahlkampfteam entschlossen gezeigt, für die Demokraten bei der Präsidentschaftswahl anzutreten. Für Aufsehen in den USA hatte zuvor ein Bericht der „New York Times“ gesorgt, wonach Biden sich intern über seine Siegeschancen besorgt gezeigt haben soll. Ein Biden-Sprecher wies den Bericht als „absolut falsch“ zurück.
Bidens Auftritt bei der ersten Live-Debatte gegen Donald Trump vor einer Woche hatte Sorgen über seine geistige und körperliche Fitness verstärkt. Nachdem eine Umfrage am Dienstag Biden und seinen Gegenkandidaten Trump noch gleichauf gesehen hatte, veröffentlichten gestern die „New York Times“ und das „Wall Street Journal“ Umfragen, in denen Trump übereinstimmend sechs Prozentpunkte vor Biden liegt.
Gestern forderte mit Raúl Grijalva aus Arizona bereits der zweite Kongressabgeordnete Biden offen auf, seine Bewerbung zurückzuziehen. Zudem sprach erstmals ein hochrangiger Demokrat über den möglichen Ablauf nach einem Ausscheiden Bidens. Der Abgeordnete Jim Clyburn sagte dem Sender CNN, wenn Vizepräsidentin Kamala Harris als Kandidatin für die Präsidentschaftswahl antreten würde, bräuchte sie selbst einen neuen Vize:
Clyburn hatte sich am Dienstag bereits für Harris als Ersatzkandidatin ausgesprochen, sollte es so weit kommen. Die 59-Jährige hat sich in ihrem Amt schwergetan. Für Harris als Ersatzkandidatin spricht allerdings ein höchst pragmatischer Grund: Sie könnte ohne rechtliche Probleme die gesamten Spendengelder übernehmen, die das Biden-Harris-Wahkampfteam bereits eingesammelt hat.
Entscheidend könnte für Biden morgen ein Interview mit dem Sender ABC werden. Es ist das erste seit dem verpatzten Debattenauftritt, und Biden muss darin unter Beweis stellen, dass er geistig fit ist. Sonst dürfte es sehr eng für seine Kandidatur werden.
In Großbritannien wird schon heute gewählt, und wenn die britischen Meinungsforscher nicht einen Jahrhundertirrtum begehen, wird Keir Starmer als neuer Premierminister in 10 Downing Street einziehen. Seine Labour-Partei liegt in Umfragen mehr als 20 Prozentpunkte vor den seit 14 Jahren regierenden konservativen Tories von Premierminister Rishi Sunak. Starmer könnte im Unterhaus dank des britischen Mehrheitswahlrechts eine deutliche absolute Mehrheit erreichen.
Im internationalen Vergleich wirkt die britische Wahl geradezu erholsam: Favorit Starmer ist ein weitgehend skandal- und charismafreier Sozialdemokrat alter Schule. Weder er noch Sunak gelten als senil, wurden wegen eines Verbrechens verurteilt oder haben erwiesenermaßen Frauen belästigt. Und es gibt auch keinen Zweifel, dass Sunak nach einer Niederlage seinen Amtssitz ohne Widerstand räumen wird. Demokratie kann ja so einfach sein.
Zu Zeiten der Eurokrise hatte Angela Merkel einst die „Schwäbische Hausfrau“ zum europäischen Ideal erhoben, als Sinnbild für sparsames Wirtschaften der öffentlichen Hand. 15 Jahre später ist die Idee, dass der Staat tunlichst nur das Geld ausgeben sollte, das er auch einnimmt, etwas aus der Mode geraten – und mit ihr die schwäbische Hausfrau.
Vielleicht ist es an der Zeit, ein neues Idealbild zu kreieren, nämlich den „Rumänischen Hausmann“. Der europäische Fußballverband UEFA veröffentlichte gestern ein Foto der Mannschaftskabine der rumänischen Nationalmannschaft in der Allianz-Arena – angeblich in dem Zustand, in dem die Spieler sie am Dienstagabend nach ihrer Niederlage gegen die Niederlande verlassen hatten. Wir sehen tadellos aufgeräumte Spinde, einen blitzsauberen Boden und auf dem Tisch einen Abschiedsbrief, in dem die Mannschaft sich bei Deutschland dafür bedankt, „dass Sie uns das Gefühl gegeben haben, zu Hause zu sein.“
Ich weiß nicht, in welchem Zustand andere Fußballprofis ihre Kabinen hinterlassen. Aber ich finde, das Ideal des rumänischen Hausmanns passt wunderbar ins Europa des Jahres 2024: Einfach mal davon ausgehen, dass niemand anderes den eigenen Dreck wegräumt.
Ich wünsche Ihnen einen subsidiären Donnerstag.
Herzliche Grüße
Ihr
Christian Rickens
Textchef Handelsblatt
PS: Regelmäßig versorge ich Sie im Morning Briefing mit den Konjunkturprognosen des Handelsblatt Research Institute (HRI). Nun sind Vorhersagen bekanntlich schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Und so freut es Sie vielleicht zu hören, dass meine Kolleginnen und Kollegen vom HRI-Konjunkturteam für die Treffgenauigkeit ihrer Deutschland-Prognose für das Jahr 2023 ausgezeichnet worden sind. Nach Berechnungen des internationalen Datendienstleisters „Focus Economics“ in Barcelona erreichte das HRI bei der Prognose des Bruttoinlandsprodukts den dritten Platz. „Focus Economics“ wertet die Vorhersagen von 54 Forschungsinstituten, Banken und Versicherungen aus.