Coronakrise Philosophin Fleury zum Lockdown: „Vielen droht der soziale und wirtschaftliche Tod“

Die französische Philosophin warnt davor, eine Exit-Strategie nach rein virologischen Empfehlungen zu erarbeiten.
Paris In Frankreich beginnt wie in Deutschland eine Diskussion darüber, inwieweit es ethisch gerechtfertigt ist, im Kampf gegen Covid-19 die bürgerlichen Rechte und die Wirtschaft einzuschränken. „Es gibt ein wirkliches ethisches Dilemma. Im ersten Moment ist es das Wichtigste überhaupt, Leben zu retten“, sagt die Philosophin Cynthia Fleury im Gespräch mit dem Handelsblatt. „Aber letztlich ist es verpflichtend, das wirtschaftliche Leben und die demokratischen Rechte aufrechtzuerhalten, denn sie sind die notwendigen Bedingungen für ein dauerhaftes Leben.“
Die 41-Jährige ist Lehrstuhlinhaberin für Philosophie und arbeitet als Psychoanalytikerin an einem Pariser Krankenhaus. Sie erlebt in ihrer täglichen Arbeit die Effekte der Ausgangsbeschränkungen auf ihre Patienten: „Die chronisch Kranken bangen um ihre Gesundheit, die Drogenabhängigen leiden unter Zwangsentzug, die wirtschaftlichen Ängste nehmen zu, die Furcht davor, aufgrund der Wirtschaftskrise ins Prekariat abzurutschen.“
Viele Formen von Frustrationen, Zwangsgefühlen und Erregbarkeit träten auf. Manche Menschen verfielen in Panik angesichts der Todeszahlen. Am Schlimmsten sei die Lage der Pflegebedürftigen und der Menschen mit kognitiven Störungen, die nicht verstünden, warum sie nicht mehr besucht werden. In manchen Altersheimen sei „die Lage dramatisch“.
Es sind auch diese täglichen Erfahrungen, die Fleury zu ihrer Schlussfolgerung bringen: Es gehe nicht einfach um Wachstumszahlen oder ein bisschen weniger Wohlstand. „Sehr viele Personen, die nicht mit dem Virus infiziert sind, gehen das Risiko eines sozialen und wirtschaftlichen Todes ein“, so Fleury. Die Gesellschaft könne nicht so tun, als habe das keinerlei Bedeutung oder sei gar gerecht.
Exit-Strategien in Frankreich noch tabuisiert
Seit zwei Wochen bestehen in Frankreich strikte Ausgangsbeschränkungen, sie wurden jüngst bis mindestens zum 15. April verlängert. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird das noch nicht das Ende sein.
Dabei zahlt das Land schon jetzt einen hohen Preis. Am Sonntag hat die Arbeitsministerin Muriel Penicaud mitgeteilt, dass bereits 2,2 Millionen Franzosen in Kurzarbeit sind. „Was wir erleben, lässt sich nur noch mit der Großen Depression von 1929 vergleichen“, sagt der Wirtschaftsminister Bruno Le Maire. Aktuell liegt die wöchentliche Wirtschaftsleistung laut dem statistischen Amt INSEE um 35 Prozent unter dem einer normalen Woche.
Doch was ist der Ausweg? Für Philosophin Fleury besteht er darin, Vertreter verschiedener Fachrichtungen, etwa Epidemiologen und Ökonomen, gemeinsam an einer Strategie für das Ende der Ausgangsbeschränkungen arbeiten zu lassen. „Das wird in Frankreich noch tabuisiert“, bedauert sie.
Dabei setzten auch die französischen Ökonomen, die eine harte Wirtschaftskrise befürchten, nicht darauf, Beschränkungen einfach wegzulassen in der Hoffnung auf eine Herdenimmunität. „Aber sie vertreten den koreanischen Ansatz: massiv testen, die negativ von den positiv Getesteten trennen, den Schutz verbessern.“
Das Problem in Frankreich bestehe in der völligen Unklarheit über die Strategie für ein Ende der Ausgangsbeschränkungen. Dabei wisse man sehr gut, dass ohne massive Tests und umfassenden Schutz neue Ansteckungen auftreten könnten und erneut das Gesundheitssystem überlastet werden könne.
Restriktionen nur als Ultima Ratio
Theoretisch müsste Frankreich dazu in der Lage sein, dieselbe Politik zu verfolgen wie Südkorea und Taiwan. Doch hätten sich die Gesundheitspolitik und allgemein das Produktionssystem „in eine gefährliche Abhängigkeit von China begeben“, bedauert Fleury.
Am Wochenende haben der Premierminister Edouard Philippe und der Gesundheitsminister Olivier Véran die Bürger mehr als eine Stunde lang über das Vorgehen der Regierung informiert. Doch ob es eine Strategie für den Post-Lockdown gibt, war anschließend genauso offen wie vorher.
Nur zwei Dinge blieben hängen: Die kommenden zwei Wochen werden, was die Zahl der Corona-Opfer angeht, noch bitterer als die vergangenen. Außerdem soll die Zahl der Tests endlich von einem sehr niedrigen Niveau aus hochgefahren werden.
Fleury erinnert daran, dass Frankreich als „nicht-autoritärer Staat die Verpflichtung hat, die Coronakrise auf demokratische Art zu bewältigen.“ Es gebe Regeln dafür, wie man den Rechtsstaat einschränken und den Gesundheitsnotstand ausrufen dürfe.
„Die Restriktionen dürfen ein vernünftiges Maß nicht überschreiten, sie müssen die Ultima Ratio darstellen in dem Sinne, dass die Lage keine Alternative zulässt, und schließlich müssen die Einschränkungen befristet und demokratisch überwacht sein“, sagt Fleury. Die Voraussetzungen für diese Kontrolle seien gegeben, „dennoch müssen wir alle zusammen sehr wachsam sein“.
Europäische Solidarität als „absolutes Fiasko“
Die Philosophin spricht ein anderes Dilemma an, vor dem die Ärzte mittlerweile täglich stehen: das der Triage, der Auswahl der Patienten, die in den Genuss der knappen Möglichkeiten zur künstlichen Beatmung kommen.
„Es ist völlig inakzeptabel, Menschen danach auszuwählen, ob sie ‚nützlich‘ sind oder nicht.“ Die Priorisierung richte sich nach präzisen ethischen Kriterien: der Schwere des Falls, den Vorerkrankungen, den Heilungschancen und den Auswirkungen auf die Behandlungsmöglichkeiten anderer Kranker.
Fleury bedauert, dass es in der Krise einen Rückfall in Atavismen – also ein Wiederauftreten von Merkmalen oder Verhaltensweisen, die den unmittelbar vorhergehenden Generationen fehlen – gebe. Das zeige sich in der „völlig unangemessenen Rhetorik einer ‚heiligen Einheit‘ der Nation oder eines Krieges“.
Schlimmer ist für sie, dass „die europäische Solidarität ein absolutes Fiasko ist“. Das eigentlich stark und gut organisierte Europa führe sich heute nur noch auf wie „ein Sammelsurium nationaler Ausnahmen, jeder schließt ohne jede Abstimmung seine Grenzen, wir helfen uns nicht systematisch bei medizinischem Gerät, es ist unfassbar traurig zu sehen, wie Europa an einer Bewährungsprobe zu scheitern droht, an der es hätte wachsen müssen.“
Sie verbindet das mit einer Warnung. Sars-CoV-2 sei eine Katastrophe, doch sei die Sterbequote noch relativ gering. „Was wir erleben, ist eine Art Generalprobe.“ Schlimmere Krisen könnten auf uns zukommen, auf die wir uns einstellen müssten. Unsere Gesellschaften müssten widerstandsfähiger werden.
Dazu gehört für Fleury auch, „den völlig wahnhaften Umgang mit der Globalisierung“ zu überwinden. Unter dem Druck eines enthemmten Liberalismus hätten unsere europäischen Demokratien den Gesundheitsschutz und das Vorsorgeprinzip hintangestellt.
„Ich glaube nicht an die De-Globalisierung“, sagt die Französin, die zahlreiche Bücher veröffentlicht hat, zuletzt „Le soin est un humanisme“. Doch dürfen die europäischen Staaten nicht länger ihr Wohlergehen weltweiten Lieferketten anvertrauen.
Sie müssten wieder regionale Kapazitäten schaffen und „essenzielle Güter wie die Gesundheit, Forschung und Ernährung nicht mehr wie Waren behandeln“. Werden wir aus der Krise lernen? Sie hofft es, zeigt aber eine gehörige Portion Skepsis: „Nichts ist schwieriger, als die richtigen Lehren zu ziehen.“
Mehr: Alle aktuellen Entwicklungen zur Coronakrise im Newsblog.
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Lieber Herr Hänseler,
nicht so grantig. Wir sagen nur unsere Meinungen, die keinesfalls absolut wahr sein müssen. Sie, ich und all die anderen.
Ich halte mich immer an Voltaire: "Ich bin zwar strikt gegen Ihre Meinung, aber ich bin bereit, mein Leben zu geben, damit Sie diese äußern dürfen"
Einen schönen Tag und bleiben Sie gesund.
Liebe Mitkommentatoren - ich bin offenbar der einzige, der der Dame nicht recht gibt.
Sobald Ihr die Moeglichkeit habt, waehlt diese Frau. Dann bekommt Ihr, was Ihr verdient.
Frau Fleury hat recht. Auch wenn BK Merkel gerne auf Sicht fährt (vulgo: im Nebel stochert) gehört zu einer verantwortungsvollen Politik eine Perspektive zu geben unter welchen Kriterien und mit welchen Zeithorizonten ein Ausstieg aus dem shut down erfolgen soll. Unsere Politiker (außer A. Laschet) sind aber nicht einmal bereit darüber zu reden. Offenbar haben sie Angst, das Volk könnten dann nicht mehr folgen. Das Gegenteil dürfte der Fall sein. Wir sind ein Volk mündiger Bürgen und brauchen keinen vormundschaftlichen Staat.
Die Frau hat nochmal Recht!
Es ist nicht nur Aufgabe der Aerzte und Wissenschaftler sondern die Fachpresse und seriöse Presse hat eine einseitige Berichterstattung, man hat den Eindruck es sterben allein und ausschließlich noch Leute durch das Corona-Virus !! Kritische Presse ist etwas anderes, ins Verhältnis setzen, wo sind die Vergleichszahlen?? Es kann nicht sein, das fürs zu Hause bleiben bezahllt wird!
Die Frau hat Recht. Ohne erkennbare Strategie für ein Ende der unglaublichen Einschränkungen unserer Freiheiten ist das Ganze ein hoffnungsloses Drama. Führung braucht in diesen Zeiten ganz besonders das Aufzeigen von Perspektiven. Die bisher erkennbare Rolle der EU (nämlich keine) ist ebenso ein Drama.
Es ist die Stunde der Aerzte - und nicht der Philosophen. Aber niemand nimmt den
letzteren die Meinungs(verbreitungs)freiheit. Aber die Roemer wussten schon:
Si tacuisses, philosophus mancisses.
Es ist die Stunde der Aerzte - und nicht der Philosophen. Aber niemand nimmt den
letzteren die Meinungs(verbreitungs)freiheit. Aber die Roemer wussten schon:
Si tacuisses, philosophus mancisses.
Es ist die Stunde der Aerzte - und nicht der Philosophen. Aber niemand nimmt den
letzteren die Meinungs(verbreitungs)freiheit. Aber die Roemer wussten schon:
Si tacuisses, philosophus mancisses.