Ende des Lockdowns Von wegen Brexit-Flaute – Großbritannien erwartet Rekord-Aufschwung

Neue Freiheit: Volle Pubs in London nach dem Ende des Lockdowns.
London Die Biergärten sind ausgebucht, die Fußgängerzonen wieder voll. Das schrittweise Ende der Corona-Beschränkungen treibt die Briten massenweise auf die Straßen. Nach dem langen Winter im Lockdown scheint der Nachholbedarf groß: Selbst in gewöhnlichen Londoner Restaurants muss man inzwischen zwei Wochen im Voraus reservieren. Der Einzelhandel, der vor drei Wochen wieder öffnen durfte, meldet Umsätze auf Vor-Corona-Niveau. Am 17. Mai machen auch Theater, Kinos und Konzertsäle wieder auf.
In Liverpool durften die ersten 3000 Besucher im Rahmen eines Pilotprojekts schon zum Tanzen in einen Nachtklub. Kommende Woche findet die Verleihung der Brit Awards in einer Halle mit 4000 Zuschauern statt – ohne Gesichtsmasken.
Großbritannien 14 Monate nach Ausbruch der Pandemie und im Monat fünf der endgültigen Trennung von der Europäischen Union – es ist ein Land wie im Rausch. Von der erwarteten Brexit-Flaute jedenfalls keine Spur – noch nicht. Im Gegenteil: Ökonomen prognostizieren ein Wachstum von sieben Prozent in diesem Jahr – ein Rekord in der Nachkriegszeit. Die Bank of England wird ihre Prognose an diesem Donnerstag voraussichtlich deutlich anheben. Sie geht bisher von fünf Prozent Wachstum aus, ebenso wie der Internationale Währungsfonds.
Mit diesem Tempo würde das Königreich nicht nur die Euro-Zone, sondern auch die USA übertreffen. „Die Lockerungen haben in Großbritannien einen viel krasseren Effekt, weil das Land in den ersten drei Monaten des Jahres einen strikteren Lockdown hatte als die meisten Länder in Europa“, sagt Fabrice Montagne, Ökonom bei der Großbank Barclays. Allerdings war die Wirtschaftsleistung im vergangenen Jahr um zehn Prozent eingebrochen, die Vergleichszahlen fallen ein Jahr später entsprechend besser aus.
Für Premier Boris Johnson sind dies willkommene Nachrichten. Der konservative Regierungschef steht am Donnerstag vor dem ersten großen Stimmungstest seit seinem Wahlsieg im Dezember 2019. Bei den Kommunalwahlen wird sich zeigen, wie die Briten seinen Umgang mit Brexit und Corona bewerten. Auch werden die Regionalregierungen in Schottland und Wales gewählt.
Die Corona-Bilanz fällt gemischt aus: Nach dem Missmanagement im vergangenen Jahr, das dem Land die höchste Opferzahl Europas bescherte, konnte Johnson mit der schnellen Impfkampagne seit Dezember die öffentliche Meinung drehen. Mehr als die Hälfte der Briten hat inzwischen eine erste Impfdosis erhalten, ein knappes Viertel auch die zweite Dosis.
Tapetenskandal hat begrenzte Wirkung
Umfragen sehen Johnsons Konservative bei den Wahlen vorn. Zwar hat der jüngste Skandal um die Luxusrenovierung der Dienstwohnung in der Downing Street den Vorsprung auf die Labour-Opposition verringert. Aber Experten erwarten keinen wesentlichen Einfluss auf das Wahlergebnis.
„Die Auswirkungen des Skandals werden begrenzt sein“, sagt Tim Bale, Politikprofessor an der Queen Mary University in London. „Die Impfkampagne ist ein Erfolg, und der wird der Regierung angerechnet. Auch die wirtschaftliche Zuversicht steigt. Das ist eine ziemlich mächtige Kombination.“
Die Parteispendenaffäre könnte eher langfristig Folgen für Johnson haben. Im Raum steht der begründete Verdacht, dass er Renovierungskosten in Höhe von 58.000 Pfund von einem Parteispender hat bezahlen lassen, ohne dies zu deklarieren. Die Wahlkommission untersucht, ob gegen Regeln verstoßen wurde.
Dies könne zum Problem für den Premier werden, wenn sich der Eindruck verfestige, dass die Regierung korrupt sei, sagt Bale. „Noch scheint es die Leute aber nicht sonderlich aufzuregen, dass irgendein reicher Typ für Johnsons Tapeten zahlt.“
Umfrage: Unternehmen klagen über Brexit-Folgen
Entscheidender ist in Großbritannien das Gefühl, dass es nach der Pandemie endlich bergauf geht. Die bisherigen Lockerungen haben nicht zu einem Anstieg der Infektionen geführt. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt bei 23. Johnson kann seinem Lockerungsfahrplan folgen und als Nächstes das internationale Reiseverbot aufheben. Am 21. Juni sollen auch die restlichen Corona-Einschränkungen fallen.
Die Regierung feiert den Impferfolg als Beweis, dass der Ausstieg aus der EU die richtige Entscheidung war. Abgesehen davon ist der Brexit aus der politischen Debatte weitgehend verschwunden. Bei den Kommunalwahlen spielt er keine Rolle. Das liegt daran, dass die meisten Briten ihn bisher überhaupt nicht spüren. „Es gibt keine leeren Regale in den Läden“, sagt Bale. „Und die Leute mussten am Flughafen auch noch nicht Schlange stehen, weil sie in der Pandemie nicht verreisen konnten.“
Noch allerdings ist es zu früh für eine Entwarnung. Besonders kleine Unternehmen, die mit der EU handeln, leiden unter den zusätzlichen Formularen und Kosten. In einer Umfrage der deutsch-britischen Handelskammer und der Beratungsfirma KPMG geben 67 Prozent der befragten Firmen an, dass die Brexit-Folgen für ihr Geschäft negativer seien als zu Jahresbeginn erwartet.
17 Prozent haben den Handel zwischen Großbritannien und Deutschland vorübergehend oder dauerhaft eingestellt. 22 Prozent sind zu Zulieferern in anderen Ländern gewechselt. 15 Prozent reduzieren ihre Investitionen in Großbritannien. Der Umbau der Lieferketten werde sich fortsetzen, sagte KPMG-Partner Andreas Glunz. Das bilaterale Handelsvolumen, das bereits seit dem Brexit-Votum 2016 sinkt, werde weiter zurückgehen.
„Es steht außer Frage, dass der Brexit einige negative Effekte hat“, sagt Barclays-Ökonom Montagne. Dieses Jahr werde er schätzungsweise 0,7 Prozentpunkte Wirtschaftswachstum kosten. Genauer lasse sich das aber erst sagen, wenn mehrere Monate Handelsdaten nach dem Ende des Lockdowns vorlägen.
In einzelnen Branchen ist der Schaden bereits sichtbar. So ist der Export von frischen Meeresfrüchten zum Erliegen gekommen. Die Fischer, die mehrheitlich für den Brexit gestimmt hatten, zählen nun zu den großen Verlierern.
Vergangene Woche hat es die Regierung nicht einmal geschafft, neue Fangquoten mit Norwegen auszuhandeln. Das Scheitern der Gespräche bedeutet, dass britische Kutter dieses Jahr nicht in norwegischen Gewässern fischen können. „Das ist ein Rückschritt“, kritisiert Barrie Deas, Chef des nationalen Fischereiverbands.
Im Aufschwung fällt die Brexit-Delle kaum auf
Außerhalb der betroffenen Branchen fällt die Brexit-Delle im Post-Corona-Aufschwung allerdings kaum auf. Das Wachstum wird getrieben von der starken Nachfrage der Verbraucher, die in der Pandemie hohe Rücklagen bilden konnten. Das zeigt sich etwa im Immobiliensektor, dem liebsten Spekulationsobjekt der Briten. Auch die heimische Tourismusbranche erwartet einen guten Sommer, weil die meisten Briten im eigenen Land Urlaub machen.
Noch unklar ist, ob auch die Unternehmen nach jahrelanger Zurückhaltung wieder investieren werden. Finanzminister Rishi Sunak will sie mit einer Sonderaktion ermutigen: In den kommenden zwei Jahren können Firmen 130 Prozent ihrer Investitionskosten von der Steuer absetzen.
Barclays-Ökonom Montagne ist skeptisch: „Aufgrund des Brexits werden wir kurzfristig keine großen Industrie-Investitionen sehen.“ David Owen, Volkswirt bei der US-Investmentbank Jefferies, hält hingegen einen Investitionsschub um zehn Prozent dieses Jahr für möglich: Firmen hätten nicht nur den steuerlichen Anreiz, sie hätten in der Pandemie auch Cashreserven von 100 Milliarden Pfund gebildet.
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