G20-Sondergipfel Afghanistankrise: Vereinte Nationen sollen humanitäre Hilfe koordinieren

Die Frage der politischen Anerkennung stellt sich gerade nicht.
Rom Eigentlich lässt der G20-Kalender keine Abweichungen zu. Die Gipfel von Ressortchefs und Ministerinnen sind Monate im Voraus festgezurrt, die Orte sorgsam ausgewählt, die Themen dutzendfach vorbesprochen. Und doch haben sich an diesem Dienstag die Staats- und Regierungschefs der 20 größten Industrie- und Schwellenländer mehr als zwei Stunden virtuell zusammengesetzt, um über einen globalen Krisenherd zu reden: Afghanistan.
Italiens Ministerpräsident Mario Draghi, der in diesem Jahr die G20-Präsidentschaft innehat, war das ein Herzenswunsch. Zu sehr beschäftigt ihn die humanitäre Krise, die Verantwortung Europas und der westlichen Länder für das Leiden der Bevölkerung vor Ort. Dort zu intervenieren ist für Draghi „eine Pflicht“. Auch wenn das Treffen, anders als die anderen Fachgipfel, nicht mit einer von allen unterzeichneten Abschlusserklärung endet: Draghi wertet das Meeting als Erfolg. „Ich habe eine große Bereitschaft zum Handeln gesehen“, sagte der 74-Jährige in einer Pressekonferenz am frühen Abend – und feiert das als die „Rückkehr des Multilateralismus“.
Die G20-Staaten haben sich auf eine gemeinsame Richtung verständigt. Sie wollen eine koordinierte Antwort auf die humanitäre Krise über die Vereinten Nationen geben. Unter dem UN-Schirm sollen auch internationale Geldgeber wie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds agieren, die Details wolle man in den kommenden Wochen erarbeiten. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erhöhte die versprochenen Hilfszahlungen für die afghanische Bevölkerung und die Nachbarländer zum Gipfelstart auf rund eine Milliarde Euro.
Premier Mario Draghi: „Frauenrechte um zwei Jahrzehnte zurückgeworfen“
Draghi machte klar, dass es unausweichlich ist, mit den Taliban in Kontakt zu bleiben. „Das hat aber nichts mit politischer Anerkennung zu tun.“ Das Regime werde für seine Taten bewertet, nicht für seine Worte. Eine inklusive Regierung, wie ursprünglich angekündigt, hätten die Taliban nicht gebildet. „Die Frauenrechte sind um zwei Jahrzehnte zurückgeworfen worden“, kritisierte Draghi.
Ähnlich klang nach der Gipfelschalte auch Angela Merkel. Die Frage der politischen Anerkennung stelle sich gerade nicht. „Dennoch soll und muss es Gespräche geben“, erklärte die Bundeskanzlerin. Natürlich gebe es keine „ganz einfache Abgrenzung“, ob internationale Hilfe am Ende nicht auch die Taliban stabilisiere. „Aber zuzuschauen, dass 40 Millionen Menschen ins Chaos verfallen, weil weder Strom geliefert werden kann noch ein Finanzsystem existiert, das kann und darf nicht das Ziel der internationalen Staatengemeinschaft sein“, mahnte Merkel.
Merkel fordert Hilfen für Afghanistan – trotz Kritik an Taliban
Draghi wollte mit seinem Sondergipfel auch zeigen: Die G20 sind nicht nur ein Ort für ökonomische Fragen. Es ist auch ein Forum für Weltpolitik. Und Italien ist mittendrin, als neues diplomatisches Schwergewicht in Europa.
Draghis Einladung folgten nicht nur Merkel und von der Leyen, auch US-Präsident Joe Biden und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schalteten sich dazu. Russland hingegen schickte nur den Vize-Außenminister in die Konferenz, China immerhin Außenminister Wang Yi. Beide Länder spielen bei der Lösung der Krise eine wichtige Rolle: Schon früh boten sie den radikalen Herrschern am Hindukusch ihre Unterstützung an.
Chinas Außenminister Wang: Sanktionen aufheben
Wang scherte dann auch auf dem Gipfel aus. Er forderte die Aufhebung aller Sanktionen gegen Afghanistan. Die G20 sollte „das afghanische Volk über sein Schicksal entscheiden lassen“, zitierte ihn das Staatsfernsehen. Einem Land „Ideologie und militärische Intervention“ aufzuzwingen, um sich in innere Angelegenheiten einzumischen, führe nur zu ständigen Turbulenzen und „schwerem humanitärem Unglück“.
Auch Katar war zum Gipfel geladen, aus gutem Grund: In Doha fanden die Gespräche zwischen Vertretern der USA und der Taliban statt. Der Wüstenstaat könnte aber auch eine wichtige Rolle bekommen, um die Verbindung zum Kabuler Flughafen weiter aufrechtzuerhalten. „Wenn der Flughafen nicht offen bleibt, ist die internationale Hilfe nicht möglich“, betonte Draghi. Noch immer gebe es viele, die das Land verlassen wollten. Auch aus den Nachbarländern müssten Menschen ausgeflogen werden.
In gut zweieinhalb Wochen treffen sich die Staats- und Regierungschefs erneut – dann physisch in Rom. Es ist das finale Treffen im diesjährigen G20-Kalender. Weil Draghi das Thema Afghanistan vorziehen konnte, bleibt nun mehr Platz für andere Punkte: die globale Mindestbesteuerung von Unternehmen, den Klimaschutz, die globale Impfkampagne.
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