Migrationskrise „Erwarten eine schwierige Situation für den Herbst“: Afghanistankrise verstärkt Konflikt zwischen Türkei und EU

3,6 Millionen Geflüchtete aus Syrien leben mittlerweile in der Türkei, hinzu kommen Hunderttausende weitere Migranten, etwa aus Afghanistan.
Ankara Der Spitzenvertreter der Europäischen Union in der Türkei warnt vor einer humanitären Notlage in Afghanistan. „Wir erwarten eine schwierige Situation für den Herbst“, sagte der deutsche Diplomat Nikolaus Meyer-Landrut dem Handelsblatt. Er mahnt schnelle Hilfe für die Menschen vor Ort an, um eine neue Flüchtlingswelle wie im Jahr 2015 aus Syrien zu vermeiden.
Die Aussagen des EU-Botschafters nähren die Vermutung, dass im Herbst eine Flüchtlingswelle droht, die bis nach Europa reichen könnte. Damit droht politisches Chaos und ein Rechtsruck wie im Jahr 2015, als Hunderttausende Syrerinnen und Syrer nach Europa flohen.
Politiker und Diplomaten, der Eindruck drängt sich auf, vermeiden mit ihren Worten zwar Panikmache. Immer wieder fallen Worte wie „Solidarität“ und „Lastenteilung“, häufig wird die gute Zusammenarbeit zwischen Brüssel und Ankara betont. Doch wenn es ums Detail geht, dann dominieren Unterschiede, Forderungen und Enttäuschung über die andere Seite.
Anders ausgedrückt: Wenn tatsächlich, wie von den Vereinten Nationen prognostiziert, bald eine halbe Million Menschen Afghanistan verlassen könnte, dann bekommt erst die Türkei ein Problem – und dann Europa.
„Die Ankunftszahlen in der Türkei steigen jeden Tag“, sagte bereits der türkische EU-Minister Faruk Kaymakci am Mittwochabend im Rahmen einer Diskussionsrunde der Konrad-Adenauer-Stiftung zum Thema Migration in der türkischen Hauptstadt Ankara vor Diplomaten. Er kündigte an, keine neuen Migranten aufnehmen zu wollen. „Wir sind nicht das Flüchtlingslager für die restliche Welt.“
Türkei hat bereits 300.000 afghanische Flüchtlinge aufgenommen
Der Vormarsch der Taliban hat Tausende Afghanen bereits dazu gebracht, in Nachbarländern Zuflucht zu suchen. Viele von ihnen nehmen einen langen Weg durch den Iran in die Türkei und darüber hinaus auf sich.
Die Türkei hat 3,7 Millionen syrische Flüchtlinge und rund 300.000 afghanische Flüchtlinge aufgenommen und ist damit das größte Aufnahmeland für Flüchtlinge der Welt. Allein seit 2015 sind offiziellen Angaben zufolge 650.000 syrische Flüchtlingskinder in der Türkei zur Welt gekommen. 1,2 Millionen Jugendliche aus dem Land gehen in der Türkei zur Schule oder besuchen eine Universität – ohne dafür zu bezahlen.
Angesichts dieser offenen Haltung gerät die Regierung von Staatschef Erdogan politisch immer mehr unter Druck. Die schwierige wirtschaftliche Lage im Land machte viele Türkinnen und Türken neidisch auf die Flüchtlinge, die umsonst Ärzte und Schulen besuchen dürfen. „Jeder Türke hat im Schnitt bereits 5000 US-Dollar an Steuern nur für die Flüchtlinge bezahlt“, beschwerte sich Migrationsexperte Hüseyin Bagci von der Odtü-Universität in Ankara.
Die Opposition hat das Thema aufgegriffen und macht mit teils fremdenfeindlichen Kommentaren Stimmung gegen die Migranten. „Wenn wir die Regierung übernehmen, werden wir die Flüchtlinge binnen zwei Jahren mit Trompeten und unter Beifall in ihre Heimat zurückschicken“, kündigte etwa Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu von der republikanischen CHP an. „Wir werden das Problem lösen“, verspricht er.
Erdogan warnt vor einer Flüchtlingskrise wie 2015
Die türkische Regierung dringt bereits auf eine Rückführung syrischer Flüchtlinge in ihr Heimatland. Die Türkei arbeite dabei mit dem UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) zusammen, sagte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu am Sonntag. „Wir erhalten jetzt mehr Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, was die sicherere Rückkehr und Repatriierung von Flüchtlingen angeht.“
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, dessen Umfragewerte stetig sinken, unterstrich, die Türkei sei nicht in der Lage, noch zusätzliche Flüchtlinge zu versorgen. Um den Druck auf Brüssel zu erhöhen, erinnerte auch er an die Ereignisse vor sechs Jahren, als Hunderttausende Syrerinnen und Syrer größtenteils unregistriert nach Europa reisten.
„Niemand möchte eine ähnliche Erfahrung wie die syrische Flüchtlingswelle von 2015 machen“, sagte Erdogan. Damals hatte die Türkei Hunderttausende Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen, von denen viele in Booten auf griechische Inseln übersetzten, um von dort aus in reichere EU-Staaten wie Deutschland zu gelangen.
Im Jahr darauf unterzeichneten die EU und die Türkei ein Migrationsabkommen, welches den Zuzug von Migranten nach Europa begrenzen soll. Im Gegenzug sagte die EU im Rahmen des „Flüchtlingspakts“ der Türkei Finanzhilfen und Reiseerleichterungen für türkische Bürger zu. Das Abkommen betrifft nur syrische Flüchtlinge in der Türkei. Migranten aus anderen Ländern sind von dem Programm ausgenommen.
Die EU wolle den sogenannten Flüchtlingspakt mit der Türkei verlängern und dafür noch einmal drei Milliarden Euro bereitstellen, erklärte EU-Botschafter Meyer-Landrut. Es sei eine „sich verstärkende Realität“, dass mehr und mehr Afghaninnen und Afghanen in der Türkei leben, erklärte Meyer-Landrut.
Derzeit arbeiteten die Technokraten in Brüssel dafür einen Plan aus, der im Oktober vorgelegt werden soll. „Und dann wird natürlich auch mit der Türkei darüber zu sprechen sein, wo und wie diese Mittel am besten eingesetzt werden.“
Flüchtlingspakt: Die Türkei stellt Forderungen an die EU
Dem türkischen EU-Minister Kaymakci dürfte das jedoch nicht reichen. Er betont, was die Türkei bereits alles geleistet hat, während die EU sich nicht an ihre Absprachen gehalten habe.
So erklärt Kaymakci etwa, dass das versprochene Geld für die Flüchtlinge zwar in Projekte investiert sei, aber die gesamte Summe sei noch nicht ausbezahlt. „Dank unserer Hilfe sind die Ankunftszahlen in der EU über die Türkei um 95 Prozent zurückgegangen“, betont Kaymakci. Offizielle Statistiken bestätigen dies.
Auch die Visaerleichterungen für Türkinnen und Türken gibt es noch nicht. „Niemand redet mehr darüber, dass der Flüchtlingspakt ein Paket mit vielen weiteren Bestandteilen ist.“ Kaymakci will das ändern und kündigte einen Forderungskatalog an, bevor die Türkei und die EU im Oktober über eine neue Kooperation in der Flüchtlingsfrage beraten.
Dazu zählt eine Neuauflage der Zollunion zwischen der EU und der Türkei sowie eine stärkere Kooperation in sogenannten „Source Countries“, also den Herkunftsländern der Migrantinnen und Migranten. „Wir müssen gemeinsam die Fluchtursachen in den Herkunftsländern wie Afghanistan, Syrien, Irak und auch in Transitstaaten bekämpfen“, fordert Kaymakci.
Darüber hinaus fordert er vor allem Griechenland auf, Fliehende in der Ägäis nicht zurückzudrängen. Die Türkei habe ihr Limit erreicht und könne keine neuen Menschen aufnehmen – ein indirekter Hinweis dafür, dass das Land Weiterreisende nicht mehr unbedingt aufhalten würde.
„Bei den Pushbacks auf dem Meer sterben die Menschen sofort“, gibt Kaymakci zu bedenken. Es stellt sich allerdings die Frage, wer alles dafür verantwortlich ist: die Türkei, die die Menschen über das Meer fliehen lässt, oder Griechenland, das die Menschen an ihrer Seegrenze teils energisch abweist.
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.