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Portrait Aufstieg und Fall von Österreichs charismatischstem Politiker: Sebastian Kurz scheitert an seinen Widersprüchen

Der 35-Jährige ist ein rücksichtsloser Machtpolitiker und war ein wandelbarer Kanzler. Damit feierte er zwar viele Erfolge, verprellte aber die Partner.
10.10.2021 - 09:37 Uhr Kommentieren
Der österreichische Politiker war eine Zukunftshoffnung der Konservativen. Quelle: Bloomberg
Sebastian Kurz

Der österreichische Politiker war eine Zukunftshoffnung der Konservativen.

(Foto: Bloomberg)

Wien So atemberaubend schnell wie der Aufstieg von Sebastian Kurz erfolgte am 9. Oktober 2021 auch sein Fall. Nachdem der Kanzler noch am Freitag trotzig an seinem Amt festgehalten hatte, beugte er sich am Samstag dem Druck seiner eigenen Partei und des Koalitionspartners: Nach zehn Jahren in der Regierung trat er zurück. Er wird zweifellos ein Machtfaktor bleiben, als Vorsitzender der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und als ihr Fraktionsführer im Nationalrat.

Die ÖVP verdankt ihm viel. Er hat die angegraute Partei in ihrer tiefsten Krise übernommen und zur unangefochtenen Nummer eins gemacht. Das politische Genie des 35-Jährigen bestand stets darin, dass er Erneuerung versprach, ohne an den konservativen Machtstrukturen in Partei und Land zu rütteln. Dies war sein Erfolgsrezept – aber auch ein Widerspruch, den er bis heute nicht auflösen konnte.

Bei Kurz handelt es sich um den talentiertesten und charismatischsten Politiker Österreichs. Der Wiener ist klug und eloquent, er weiß, wie er mit den Leuten reden muss, seine Freunde pflegen und Skeptiker einbinden kann. Die byzantinisch anmutende ÖVP, die der Politologe Peter Filzmaier als „Quadratwurzel aus Landeshauptleuten dividiert durch Ansichten der Bünde“ bezeichnete, brachte der Jungpolitiker voll auf seine Linie – so sehr, dass sie vollständig von seinem Erfolg abhängt. Dass sie ihn am Wochenende dennoch fallengelassen hat, zeigt, wie tief der Schock über die jüngsten Affären sitzt.

Im persönlichen Gespräch kann Kurz der personifizierte Charme sein. Diejenigen Medien, die er nicht zu seinen Gegnern zählte, empfing er zum lockeren Hintergrundgespräch im Kanzleramt, Journalisten rief er auch einmal am Sonntagabend zum Interview an. Auf kritische Fragen, gerade wenn er diese im linksliberalen Wiener Milieu verortet, kann er aber dünnhäutig, fast allergisch, reagieren. Sein Harmoniebedürfnis koexistiert mit einem ausgeprägten Freund-Feind-Denken.

Ein starkes Lagerdenken prägt Kurz seit Beginn seiner politischen Karriere. Er machte die Jugendorganisation der ÖVP zu einer effizienten Kaderschmiede, bevor er als 24-Jähriger Staatssekretär wurde. 2013 übernahm er das Außenministerium, wo der Studienabbrecher zum wichtigsten Hoffnungsträger von Österreichs Konservativen aufstieg.

Österreichs Kanzler Sebastian Kurz tritt zurück

Während der Flüchtlingskrise 2015 stellte Kurz mit seiner harten Linie den Rest der damaligen großen Koalition zwischen Sozialdemokraten und ÖVP in den Schatten. Kurz und sein Zirkel erkannten, dass sich der Höhenflug der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei (FPÖ) nur durch eine teilweise Übernahme von deren migrationspolitischen Positionen stoppen ließ. Die „Schließung“ der Balkanroute im folgenden Frühling wurde zu seinem größten Erfolg – auch wenn dieser maßgeblich vom gleichzeitig ausgehandelten EU-Türkei-Pakt abhing.

Rücksichtsloser Machtinstinkt

Im Mai 2017 wurde er Parteivorsitzender der Konservativen, und fünf Monate später gewann die „Liste Sebastian Kurz – die neue Volkspartei“ die vorgezogenen Nationalratswahl klar. Der Zuschnitt der Partei auf seine Person war dabei allerdings nur ein Anzeichen eines ausgeprägten Machtbewusstseins.

Kurz machte nie ein Hehl daraus, dass ihm die in der jahrzehntelangen großen Koalition ritualisierte Konsenskultur in Österreich ein Greuel war. Mit einigem Recht sah er darin die Wurzel einer zunehmenden Reformunfähigkeit und einer Versteinerung des Landes. Kurz sorgte nicht nur für ein vorzeitiges Ende der Koalition mit der SPÖ, sondern entfernte mit seinem Vorgänger Reinhold Mitterlehner auch die Vertreter eines zu moderaten Kurses von der Parteispitze. Diesen nannte er in nun publik gewordenen Handy-Nachrichten einen „Arsch“.

Wie zielgerichtet und rücksichtslos die neue Führung vorging, wurde erst mit der Zeit bekannt. Die linke Wochenzeitung „Falter“ enthüllte das „Projekt Ballhausplatz“, eine detaillierte Strategie zur Machtübernahme. Die in den letzten Tagen öffentlich gewordenen Chats komplettieren das wenig schmeichelhafte Bild: Die Verbündeten des Außenministers kauften mutmaßlich mit Steuergeld nicht nur Kurz-freundliche Kampagnen im Boulevardblatt „Österreich“, sondern auch manipulierte Umfragen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm und verschiedenen Vertrauten Bestechlichkeit, Bestechung und Untreue vor.

Bizarrerweise bestätigten die Umfragen nur die offensichtliche Popularität des Politikers. Allerdings arbeitete Kurz hinter den Kulissen auch aktiv daran mit, sich selbst als alternativlos zu einer scheinbar völlig gelähmten Koalition darzustellen. So informierte ihn sein Vertrauter Thomas Schmid über Verhandlungen der Koalitionsspitze, populäre Ganztagesschulen und Kinderbetreuung mit zusätzlichen Mitteln zu fördern. „Gar nicht gut!!! Wie kannst du das aufhalten?“, fragte Kurz zurück und fügte hinzu: „Kann ich ein Bundesland aufhetzen?“ Das Programm kam schließlich nur in abgespeckter Form.

Der Rechtsruck, den die ÖVP unter Kurz vollzog, war aufgrund seiner Strahlkraft parteiintern wenig umstritten – auch, weil der Vorsitzende geschickt den Bruch mit wichtigen Interessengruppen vermied. Die Koalition mit der FPÖ, auf die sich der neue Kanzler am 15. Dezember 2017 einließ, war zwar im linken und liberalen Spektrum verhasst. Gerade wirtschaftsnahe Gruppen in der ÖVP sahen sie aber auch als Chance, Strukturreformen durchzuführen. Die beiden Parteien fanden ihre Gemeinsamkeiten bei der Migration, aber auch bei Steuersenkungen und der Familienpolitik.

Sebastian Kurz war am Samstag auf Druck des Koalitionspartners und der eigenen Partei zurückgetreten. Quelle: imago images/SEPA.Media
Kundgebungen

Sebastian Kurz war am Samstag auf Druck des Koalitionspartners und der eigenen Partei zurückgetreten.

(Foto: imago images/SEPA.Media)

Indem Kurz sich zudem als Garant für eine proeuropäische Haltung positionierte, vermied er jene Konflikte mit Brüssel, die Österreich bei der ersten Regierungsbeteiligung der Freiheitlichen 2000 noch Sanktionen eingebracht hatten. Für Skepsis sorgte hingegen, dass mit Herbert Kickl ein äußerst unberechenbarer Politiker das Innenministerium übernahm. Die Razzia beim Nachrichtendienst BVT sorgte für einen nachhaltigen Vertrauensverlust bei ausländischen Partnern. Auch vermochte sich die FPÖ nie überzeugend von ihrem rechtsextremen Rand zu distanzieren.

Dennoch kam das Ende der sich stets um Harmonie bemühenden Koalition am 17. Mai 2019 wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die Veröffentlichung des Ibiza-Videos, in dem Vizekanzler Heinz-Christian Strache seinen medialen Kontrollgelüsten freien Lauf ließ und über illegale Spendenkonstruktionen referierte, zwang Kurz zum Bruch. Sein Versuch, mit einer ÖVP-Alleinregierung weiterzumachen, resultierte in seiner Abwahl durch ein parlamentarisches Misstrauensvotum.

Er nutzte beim folgenden Urnengang die Gelegenheit, sich als Opfer oppositioneller Machenschaften zu profilieren und gestärkt an die Macht zurückzukehren: Die ÖVP holte 37,5 Prozent der Stimmen. Damit eröffnete sie sich die Möglichkeit, mit den ebenfalls gestärkten Grünen eine Regierung zu bilden – ein Glücksfall auch deshalb, weil die Beziehungen zu Sozialdemokraten und Freiheitlichen zerrüttet waren.

Konservativ-grüne Pioniere

Der inzwischen 33-Jährige erfand sich neu und präsentierte sich als europäischer Pionier einer konservativ-grünen Zusammenarbeit. Die inhärenten Widersprüche zwischen einer rechtsbürgerlichen und einer betont linken Partei übertünchte er mit seinem kommunikativen Talent. Die Koalition werde „das Beste aus zwei Welten“ vereinen, wiederholten der Kanzler und sein grüner Stellvertreter Werner Kogler gebetsmühlenartig: harte Migrationspolitik und Stärkung des Standorts für die ÖVP und ökologische Reformen für den Juniorpartner.

Dass die Spannungen damit nicht verschwunden waren, zeigte sich immer wieder bei Reizthemen wie Ausschaffungen oder dem Straßenbau. Dass sie nicht eskalierten, lag an der Corona-Pandemie, die politische Differenzen hinter der Krisenbekämpfung verschwinden ließ.

Wofür Kurz politisch wirklich stand, wurde derweil noch verschwommener: Er erschien in den letzten 18 Monaten als Pragmatiker der Macht, der keine politischen Flanken offenlassen wollte und dafür auch die Staatskassen weit öffnen ließ. Die Anfang Oktober präsentierte „ökosoziale Steuerreform“ war ein Beispiel dieser Kurz'schen Realpolitik: Sie ließ zwar eine vorsichtige grüne Handschrift erkennen, war aber abgefedert durch Konzessionen an alle wichtigen Interessengruppen, von den Bauern über die Industrie bis zu den Familien und den Autofahrern. Kohärenz sieht anders aus.

Österreichs Grünen-Chef bezeichnet Kurz-Rücktritt als „richtig“

Die Eile, mit der Kurz viele seiner Projekte präsentierte, war stets auch mit dem Ziel verbunden, unangenehmere Themen aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Wie ein Damoklesschwert hing dabei „Ibiza“ über der konservativ-grünen Regierung: Diese hatte zwar versucht, einen breit gefassten Untersuchungs-Ausschuss zu verhindern, musste ihn aber nach einer Intervention des Verfassungsgerichts akzeptieren.

Die ÖVP konnte nicht verhindern, dass sich die Befragungen immer stärker auf ihre politischen Deals statt jene der FPÖ konzentrierten. Postenschacher und Gegengeschäfte, seit Jahrzehnten ein fester Teil der österreichischen Politik, erhielten auf einmal ein Ausmaß an öffentlicher Aufmerksamkeit, das die Beteiligten auf dem falschen Fuß erwischte und Kurz in Widersprüche verwickelte. Die Behauptung, er habe von allem nichts gewusst, war für den machtbewussten Politiker unglaubwürdig.

Für Sebastian Kurz muss es einer bitteren Ironie gleichkommen, dass es ausgerechnet das manische Mitteilungsbedürfnis von Thomas Schmid war, das ihm letztlich zum Verhängnis wurde. Als mächtiger Generalsekretär im Finanzministerium hatte dieser Mann dem Jungpolitiker einst den Zugang zu jenen Geldtöpfen und medialen Einflussmöglichkeiten eröffnet, die für seinen Aufstieg mitentscheidend waren. Nun hatte die Staatsanwaltschaft im Rahmen ihrer Untersuchungen zum Postenschacher unter der ÖVP-FPÖ-Regierung Schmids Mobiltelefon beschlagnahmt – und damit Zugang zu über 300.000 Textnachrichten aus dessen innerem Kreis.

Kein neuer Stil

Die politisierten und zerstrittenen Strafverfolger machten dabei längst nicht immer eine souveräne Figur. Die ständigen Leaks an die Medien durch Verfahrensbeteiligte und die Tatsache, dass die für Kurz letztlich fatalen Chats eigentlich nur Beifang sind, führten die Unschuldsvermutung zeitweise ad absurdum. Doch der Umgangston, die Verachtung für Kontrahenten und die Macht-Trunkenheit, die aus ihnen hervorgeht, sind das Gegenteil jenes „neuen Stils“, den Kurz versprach. Auch deshalb überzeugte seine Verteidigungslinie nicht, wonach unter früheren Regierungen ähnliche Gepflogenheiten geherrscht hätten.

Dass sich der Kanzler in seinem verzweifelten Abwehrkampf alles andere als staatsmännisch verhielt und mit seinen oft undifferenzierten Attacken gegen die Justiz erheblichen Flurschaden anrichtete, machte ihn letztlich untragbar.

Bis zuletzt war Kurz nicht zu Selbstkritik imstande. Selbst im Moment seines Rücktritts, den er mit der Staatsräson begründete, konnte er seine Bitterkeit über den Verrat der Grünen und die „ungerechte“ Behandlung, die ihm widerfahren sei, nicht verbergen. Kurz hegt die Hoffnung einer Rückkehr an die Spitze, wenn die Vorwürfe gerichtlich ausgeräumt sind. Die Frage, welche Partner ihm dafür dereinst bleiben, bleibt aber ebenso offen wie die Rolle, die er in naher Zukunft für die Stabilität des österreichischen Systems spielen wird.

Mehr: Kurz hat den Weg für einen Fortbestand der Regierung aus Grünen und ÖVP freigemacht. Die Korruptionsvorwürfe gegen ihn weist er als falsch zurück.

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