Preissteigerung Verbraucherpreise auf einem 30-Jahres-Hoch: Warum die Ökonomen die massive Steigerung nicht erwartet haben

Auch Lieferengpässe führen zu höheren Preisen.
Berlin Inflation? Keine Überraschung. Das Credo der meisten deutschen Ökonomen mit Blick auf die aktuell steigenden Verbraucherpreise ist einhellig: alles erwartbar, alles nicht schlimm. Mit 3,8 Prozent lagen die Verbraucherpreise im Juli so hoch wie seit rund 30 Jahren nicht mehr.
Tatsächlich fußt die Teuerung derzeit vor allem auf vorübergehenden Effekten. Doch ein Blick in die Prognosen der Auguren zeigt: Gerechnet hat mit dieser Teuerung so gut wie niemand. Die großen Wirtschaftsforschungsinstitute hatten noch im Dezember durch die Reihe Inflationsraten zwischen 1,2 und 1,6 Prozent für das Gesamtjahr prognostiziert. Selbst die Bundesbank lag bei nur 1,8.
Dabei liegt schon jetzt das Mittel der monatlichen Teuerungsraten bei 2,1 Prozent. Die Bundesbank rechnet noch in diesem Jahr mit Inflationsraten von bis zu fünf Prozent. Die Institute haben sich inzwischen allesamt nach oben korrigiert – wenn auch weniger stark.
Um die aktuelle Diskussion besser zu verstehen, lohnt der Blick zurück: Die überraschende Inflation lässt sich in fünf Gründen erklären. Wie kam es, dass die Prognostiker so weit danebengelegen haben? Und was sagt das über die Panikmacher und Beschwichtiger in der aktuellen Inflationsdiskussion?
1. Der Mehrwertsteuer-Effekt wurde falsch eingeschätzt
Die Coronakrise hatte im vergangenen Jahr einen selten da gewesenen Einbruch des Konsums in Deutschland hervorgerufen. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) reagierte: Die Mehrwertsteuer wurde von 19 beziehungsweise sieben auf 16 respektive fünf Prozent gesenkt. Zu Beginn des Jahres 2021 wurde die Steuer wieder normalisiert.
Dass das die Teuerung beeinflussen würde, überraschte niemanden. Der sogenannte Basiseffekt folgte bei der Senkung aber offenbar nicht dem gleichen Schema wie bei der Erhöhung, sodass der Einfluss auf die Inflationsrate stärker war als erwartet.
Die Unternehmen haben die Preise bei der Mehrwertsteuer-Normalisierung offensichtlich stärker erhört, als sie sie bei der Senkung nach unten angepasst hatten. Simon Junker, Konjunkturforscher am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), erklärt: „Das dürfte dieses Jahr knapp einen Prozentpunkt zur Inflation beisteuern.“
2. Die Lieferengpässe wurden vollkommen unterschätzt
Weil die Menschen während der Lockdowns nicht ins Café oder zur Kosmetik gehen konnten, kauften sie lieber Spielekonsolen oder Möbel. Die hohe Nachfrage nach Ende der schlimmsten Phase der Corona-Pandemie hat die Industrie längst an ihre Grenzen gebracht. Hinzu kämen Corona-bedingte Produktionsausfälle, erklärt Junker vom DIW: „Nun sind die weltweiten Lieferketten verstopft, und die Engpässe treiben die Preise.“
Eine aktuelle Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) unter fast 3000 Unternehmen kommt zu dem Ergebnis, dass 83 Prozent über Preisanstiege oder Lieferprobleme bei Rohstoffen, Vorprodukten und Waren klagen.
In der Automobilbranche fehlen Halbleiter, Möbelhändler leiden unter Holzmangel. 67 Prozent der Unternehmen erklärten bei der DIHK-Umfrage, die Preiserhöhungen bei Rohstoffen und Vorleistungen an ihre Kunden weiterzugeben.
Torsten Schmidt, der die Konjunkturabteilung am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen verantwortet, sagt: „Wir hatten zwar damit gerechnet, dass es Lieferprobleme geben würde.“
Dieses Ausmaß hätten sie aber nicht erwartet. „Das liegt vor allem daran, dass wir in der konjunkturellen Analyse gar nicht so tief in jede einzelne Branche schauen können“, erklärt Schmidt. Das sei Fluch und Segen der Konjunkturprognosen zugleich. „Sie können das große Bild abbilden, extreme Entwicklungen in bestimmten Bereichen aber kaum.“
3. Wer viel spart, kann viel kaufen
Das Institut für Weltwirtschaft (IfW) aus Kiel schwingt sich zum Ehrenretter der deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute auf. In ihrer Prognose im Dezember hatten die Konjunkturforscher bereits mit einer Inflationsrate von 2,6 Prozent für 2021 gerechnet. Die anderen Institute werden hingegen wohl alle weiter daneben liegen.
Überraschend ist das nicht unbedingt, die Kieler gelten gemeinhin als die Auguren mit dem größten Mut abzuweichen. Auch ihre Erwartungen zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) fallen im Vergleich meist besonders hoch oder besonders niedrig aus. Bei der Inflationsrate für 2021 ist aber besonders die Begründung bemerkenswert.
„In der massiv angeschwollenen Ersparnis liegt ein erhebliches Aufwärtsrisiko sowohl für die Konjunktur als auch für die Verbraucherpreise“, so steht es in der Prognose. Weil die Geschäfte und Restaurants geschlossen und Urlaube kaum möglich waren, haben die Menschen während der Corona-Pandemie Ersparnisse wie selten zuvor angesammelt.
Für die beiden Krisenjahre 2020 und 2021 beläuft sich die so aufgestaute Kaufkraft auf insgesamt 200 Milliarden Euro, schätzt das IfW. Jetzt, wo sich die Lage einigermaßen entspannt hat, wollen sie ihr Geld wieder loswerden, was die Preise treibt.
„Im Zeitverlauf werden die Corona-bedingt deutlich gestiegenen Sparquoten auf ihr normales Niveau zurückgehen“, sagt Bert Rürup, Präsident des Handelsblatt Research Institute (HRI). Ein Boom dürfte daraus aber nicht entstehen, damit rechnet nicht einmal das IfW.
Das Marktforschungsunternehmen Ibis-World schätzt, dass die privaten Konsumausgaben 2021 insgesamt auf dem Niveau von 2015 liegen werden, weil der Lockdown zu Jahresbeginn und neue mögliche Einschränkungen gegen Jahresende der Kauflaune wieder im Weg standen beziehungsweise stehen. Das hatten auch die anderen Institute so abgesehen.
IfW-Konjunkturleiter Stefan Kooths erklärt jedoch: „Dass das Angebot aber gleichzeitig knapper wird, davon waren die meisten nicht ausgegangen.“ Sowohl die Ausfälle in der Güterproduktion als auch der Rückgang an Angeboten im Gastgewerbe, weil Restaurants oder Hotels weniger Gäste bewirten konnten und jetzt keine neuen Mitarbeiter finden, seien „ein erheblicher Preistreiber“, meint Kooths.
4. Die Energiepreise kletterten deutlich höher als ohnehin schon erwartet
Der wohl erwartbarste Preistreiber sind die Energiekosten. Doch auch dabei wurde das Ausmaß unterschätzt. Die Einführung des nationalen Brennstoff-Emissionshandels in diesem Jahr könne bis zu einen Prozentpunkt zur Inflationsrate beitragen, hatte eine Untersuchung des Sachverständigenrats der „Wirtschaftsweisen“ schon 2020 ergeben.
Nicht auf dem Schirm hatten die Ökonomen jedoch die Rolle des Ölpreises. Notierte ein Barrel der Nordseesorte Brent im Januar noch bei maximal 47 Euro, liegt der Preis inzwischen bei bis zu 63 Euro. „Die Unternehmen können das vielfach im großen Stil an ihre Kunden weitergeben“, sagt Michael Grömling, Konjunkturchef am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln.
Dass die Institute das nicht ahnten, hängt vor allem mit der Art ihrer Voraussage zusammen. Die meisten Prognostiker setzen beim Ölpreis nicht auf Schätzungen, sondern greifen auf eine technische Annahme zurück – häufig Termingeschäfte für Rohöl.
„Diese hatten den massiven Anstieg der Ölpreise zum damaligen Zeitpunkt gar nicht eingepreist“, sagt DIW-Forscher Junker. Für die Energiepreise habe sich zum Zeitpunkt der Prognose im Dezember kaum eine Änderung zum Vorjahr ergeben. „Diese Diskrepanz allein führt zu einer wohl um fast einen Prozentpunkt zu niedrigen Inflationsprognose“, schätzt Junker.
Das gilt in ähnlicher Weise für den Strompreis. An der Strombörse in Leipzig haben sich seit März 2020 die Notierungen für Stromlieferungen im kommenden Jahr mit über 70 Euro pro Megawattstunde mehr als verdoppelt. Seit rund zwölf Jahren war der Strom im Großhandel nicht mehr so teuer.
RWI-Abteilungsleiter Schmidt sagt: „Das langfristige Steigen der Strompreise war so nicht abzusehen.“
5. Es gibt einen statistischen Sondereffekt
Der deutsche Verbraucherpreisindex basiert auf einem Warenkorb von rund 700 Waren und Dienstleistungen. Das Statistische Bundesamt gewichtet diese im sogenannten Wägungsschema. Um daraus die Inflationsrate zu ermitteln, nutzen die Statistiker klassischerweise den Laspeyres-Index. Dieser nutzt die Gewichte, also die Verbrauchsmengen, aus dem Basisjahr. Das ist aktuell das Jahr 2015.
Für die aktuelle Situation folgt daraus: Die Inflationsrate wird höher bewertet als bei anderen Messmöglichkeiten. Das zeigt sich am Beispiel Reisen. Pauschalreisen gewichtet das Statistische Bundesamt mit rund 2,6 Prozent im Warenkorb des Basisjahrs. Dabei war der Umsatz der Reise- und Tourismusbranche 2015 mit rund 50 Milliarden Euro deutlich höher als 2021 mit 21 Milliarden Euro, wie ihn Statista prognostiziert hat.
Um die Einbußen infolge der Krise wettzumachen und den gesteigerten Aufwand durch Hygienevorschriften zu kompensieren, erhöhen die Reiseanbieter aber teils kräftig ihre Preise. Im Ergebnis fallen diese Preisanstiege in den Portemonnaies der Bürger weniger auf, weil sie aktuell im Durchschnitt seltener in den Urlaub fahren. Die Teuerung kommt weniger bei ihnen an, als es die Inflationsrate aussagt.
Alternativ lässt sich die Inflationsrate über den Paasche-Index berechnen, der einen Warenkorb anhand der heutigen Konsumgewohnheiten zugrunde legt. Der „Harmonisierte Verbraucherpreisindex“ (HVPI) ist vergleichbar mit einem Paasche-Index. Beim HVPI ist der Warenkorb so gewählt, dass er eine internationale Vergleichbarkeit ermöglicht.
Das Statistische Bundesamt erklärt dazu: „Die Corona-Pandemie mit ihren Einschränkungen für das öffentliche Leben und den daraus resultierenden Folgen machte eine Änderung des üblichen Vorgehens bei der jährlichen Aktualisierung der Gütergewichte des Harmonisierten Verbraucherpreisindexes (HVPI) notwendig.“ Die Folge: Während die nationale Inflationsrate im Juli auf 3,8 Prozent kletterte, notierte der HVPI 0,7 Prozentpunkte niedriger.
Panik nein, Vorsicht ja
Die aktuellen Inflationszahlen polarisieren. Die einen halten die Teuerung nur für ein kurzfristiges Phänomen, die anderen sehen schon die nächste Hyperinflation heranrauschen. Kein Zweifel: Der Großteil der steigenden Preise ist auf vorübergehende Effekte zurückzuführen. „Die preistreibenden Effekte sind bislang vorrangig angebotsseitiger Natur – Ölpreissteigerungen, Mehrwertsteuererhöhung oder Chipverknappung . Früher hätte man das Teuerung genannt“, erklärt HRI-Präsident Rürup.
Mehrwertsteuer, Konsumlaune, Lieferengpässe: Was die Krise ausgelöst hat, wird mit ihrem Verschwinden wieder weichen. „Krise und Prognose zusammen, das ist immer ein schwieriges Unterfangen“, sagt Schmidt vom RWI.
Aber der Blick zurück zeigt: Es ist nicht nur der Mehrwertsteuer-Basiseffekt, der die Inflationsrate in die Höhe treibt. Auch nachhaltige Entwicklungen wie die Energiepreise haben einen Einfluss, der sich noch ausbauen dürfte. Weitere Effekte könnten hinzukommen. Manchmal lohnt ein Blick zurück, um zu erkennen, dass Panik in Zukunft unangebracht, Vorsicht aber geboten ist.
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