Take-Home-Exams: Zertifikat durchs Schummeln: Wie Studierende bei Onlineklausuren tricksen
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Online-StudiumZertifikat durchs Schummeln: Wie sich Studierende durch Onlineklausuren tricksen
Viele Hochschulen haben wegen der Pandemie nicht nur die Lehre, sondern auch die Prüfungen ins Internet verlagert. Die Täuschungsversuche häufen sich.
Online-Klausuren sind eine Herausforderung für Prüfer und Prüflinge.
(Foto: Christin Hume/Unsplash)
Düsseldorf Als die Wissenschaftler an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder die Klausuren ihrer Studenten korrigierten, staunten sie nicht schlecht: Ein Fünftel der 357 Prüflinge kam bei einer Aufgabe zum exakt selben Ergebnis – allerdings zum falschen. Auch der vermeintliche Lösungsweg war in allen Arbeiten identisch. Ein klarer Fall von Betrug: Die Studenten hatten sich während der Prüfung über Messengerdienste ausgetauscht, Hochschulpräsidentin Julia von Blumenthal beklagte „Täuschungen in erheblichem Umfang“.
Mit diesem Problem ist sie nicht allein. Wegen der Pandemie ist nicht nur der Studienbetrieb weitgehend ins Internet umgezogen, an vielen Hochschulen finden auch die Prüfungen digital statt: die Prüflinge bearbeiten die Aufgaben am heimischen Schreibtisch. Bei einigen dieser sogenannten Take-Home-Exams ist die Benutzung von Büchern und Skripten sogar zugelassen. Doch das reicht manchem angehenden Akademiker offenbar nicht.
Seit Beginn der digitalen Prüfungen wird vermehrt getrickst: Allein in Berlin meldete die Hochschule für Technik und Wirtschaft 99 versuchte Betrugsfälle, 39 die Hochschule für Wirtschaft und Recht, die Beuth-Hochschule zählte 44 Täuschungen. Und im schwäbischen Neu-Ulm soll sich gleich ein Drittel der Prüflinge auf die richtige Lösung verständigt haben. Weitere Details, etwa die Studienfächer der überführten Trickser, nennen die Bildungsanbieter aus Datenschutzgründen nicht.
Einheitliche Regeln fehlen an den Hochschulen
Zwar betonen die Hochschulen, dass der Großteil der Studenten ehrlich sei, auch vom Handelsblatt befragte Personalmanager befürchten nicht, dass sich hier gerade ein Jahrgang gewiefter Corona-Profiteure online durchs Examen schummelt. Doch die vielen Einzelfälle werfen ein Schlaglicht auf die Schwachstelle digitaler Prüfungen: Wer statt des Lehrstoffs innovative Täuschungsmethoden paukt, hat gute Chancen, damit durchzukommen. Hätten sich die Lösungen in Frankfurt nicht so auffallend geähnelt, wären die Tricksereien wohl kaum aufgeflogen.
Die Universitäten versuchen gegenzusteuern: Mikrofone und Kameras zeichnen das Verhalten der Studenten während der Prüfung auf, Kontrollsoftware verfolgt, was sie tippen und welche Programme sie nutzen. Der Einsatz solcher Tools muss aus Datenschutzgründen im engen Rahmen bleiben. Einheitliche Regeln gibt es bisher nicht.
„Es gibt viele hochschulindividuelle Lösungen, wie Onlineprüfungen an einer Hochschule aussehen sollen“, sagt Bildungsexpertin Jannica Budde. Sie ist Projektmanagerin am CHE Centrum für Hochschulentwicklung in Gütersloh.
Drei Varianten für Prüfungen im Homeoffice
Prüfungen im Homeoffice gibt es in drei Varianten: Beim Closed-Book-Verfahren dürfen nur Konzeptpapier, Stifte und Taschenrechner auf dem Tisch liegen. Bei der Open-Book-Methode sind gedruckte Hilfsmittel gestattet, und bei Open-Web-Prüfungen dürfen die Prüflinge auch im Internet recherchieren.
Überprüft wird die Einhaltung der Vorschriften per Webcam, zuweilen sogar mit zweien: Die eine nimmt den Prüfling von vorn auf, die andere von hinten. So soll ausgeschlossen werden, dass sich oberhalb des Monitors ein zweiter Laptop oder ein fachkundiger Einflüsterer verbirgt.
Beliebte Betrugsmaschen bei Onlineprüfungen
Apps lassen das Einblenden von Inhalten auf dem Monitor zu, die bei der Übertragung nicht angezeigt werden.
Prüflinge schließen zwei Monitore an ihren Rechner an, doch nur einer ist sichtbar für die Prüfungsaufsicht. Der zweite wird zum Spicken genutzt.
Studenten nehmen vor der Klausur ein Video aus der Perspektive ihrer Webcam von der vermeintlichen Prüfungssituation auf. Das Video wird in der realen Prüfung anstelle des Kamerabilds eingespielt.
Der Prüfling sitzt nur zum Schein vor dem Rechner, tatsächlich steuert ihn eine andere Person per Kabel oder Funk. Alternativ gibt sie Anweisungen an den Studierenden, etwa per Ohrhörer oder Messenger.
Der Student legt die Datei mit den Aufgaben auf einem Cloud-Server ab. Dort wird sie von jemand anderem bearbeitet.
Iris Hausladen, Professorin am Lehrstuhl für IT-gestützte Logistik an der HHL Graduate School of Management in Leipzig, setzt auf Verfahren, die sowohl Fairness als auch Datenschutz gewährleisten sollen: Sind bei der Prüfung keine Hilfsmittel erlaubt, loggen sich die Studierenden in eine Videokonferenz ein und öffnen vor der Kamera den versiegelten Umschlag mit den Prüfungsfragen. Dabei präsentieren sie der Webcam ihren Studentenausweis.
„Auf diese Weise lässt sich fast gänzlich ausschließen, dass fremde Personen an der Beantwortung mitwirken“, meint Hausladen. Nach Abschluss der Prüfung fotografieren die Studierenden ihre Lösungswege auf dem Konzeptpapier und senden die Bilder per Mail an die Uni.
Bei den anderen Varianten, bei denen Hilfsmittel zugelassen sind, werden die Prüflinge via Webcam beobachtet und per Mikrofon belauscht. „Bei Open-Book-Klausuren müssen natürlich etwas kniffligere Fragen gestellt werden“, sagt Hausladen. Diese Methode sei für alle Beteiligten wesentlich anspruchsvoller als ein Multiple-Choice-Test.
Studenten haben aufgerüstet – Hochschulen sind nachgezogen
Wer es darauf anlegt, kann jedoch nahezu jeden digitalen Wächter umgehen. „Die Anzahl der Erfolg versprechenden Täuschungsversuche ist zu Hause höher als im Hörsaal“, weiß auch Malte Persike, wissenschaftlicher Leiter am Center für Lehr- und Lernservices der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) in Aachen. Klar, im Internet wimmele es nur von Tipps für Onlineprüfungen. Zwar hatte die RWTH wegen ihrer offenen Zertifikatskurse für externe Studierende bereits Erfahrungen mit digitalen Fernprüfungen. Doch als im Frühjahr 2020 digitale Klausuren für alle eingeführt wurden, musste Persike aufrüsten: „Die Studierenden waren viel weiter als wir.“
Um den Wissensvorsprung zu verringern, beauftragte die Hochschule studentische Hilfskräfte, in einer videoüberwachten Testprüfung nach Kräften zu schummeln. Ergänzt um die Ergebnisse einer Internet- und Literaturrecherche hat der Diplom-Psychologe aus diesen Erfahrungen eine lange Liste von Täuschungsszenarien erstellt. „Jetzt macht uns keiner mehr was vor“, sagt Persike.
Das Gleichgewicht der Kräfte ist allerdings fragil. „Anstatt enormen Aufwand in die Täuschungskontrolle zu stecken, sollten wir mehr Zeit darauf verwenden, unsere Prüfungen so zu gestalten, dass die Täuschungsabsicht verhindert wird.“ Kompetenzen zu prüfen, statt Wissen abzufragen, könnte helfen, die Kreativität der Studenten auf den Lernstoff zu lenken – statt darauf, wie sich am besten tricksen lässt.
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