Gastbeitrag zum Amazon-Skandal: „Wir sind mit unserem Geldbeutel immer auch Täter“
Felix Stöckle, Managing Director bei Landor Associates; eine weltweite Markenberatung für Strategie, Design und Kommunikation aus Hamburg. (Foto: Landor Associates)
Foto: HandelsblattHamburg. Wir alle nutzen Marken, um uns in der Komplexität unserer heutigen Welt zurechtzufinden und um in der Flut verfügbarer Alternativen die richtigen Kaufentscheidungen zu treffen, die uns nach Möglichkeit ein gutes Gefühl geben. Und wir alle wollen, dass uns diese Marken, für die wir uns entschieden haben und denen wir vertrauen, nicht enttäuschen.
Und deswegen kann ein ARD-Markencheck unsere Welt auf den Kopf stellen. Weil plötzlich die Dinge sichtbar werden, von denen wir nichts gewusst haben. Oder nichts wissen wollten. Denn so sehr uns das, was wir dort sehen, bestürzt, sind wir nicht nur die Opfer, als die wir uns gerieren, sondern wir waren mit unserem Geldbeutel und unseren Konsumentscheidungen auch immer Täter. Im besten Fall haben wir es bloß nicht besser gewusst. Und das trifft wohl auch auf die meisten Amazon-Kunden zu – entsprechend konsequent agieren jetzt einige mit der Kündigung ihrer Kundenkonten.
Das Problem ist aber ein größeres: Wir alle wissen, oder ahnen, dass unser Lebensstil nicht nachhaltig ist. Wir wissen, was wir wollen würden, aber begreifen es als Utopie. Aber kann eine Utopie nicht Realität werden? Die Wahrheit ist: Nicht von heute auf morgen, aber es könnte eine gemeinsame Reise sein.
In einer idealtypischen Welt folgt jedes Unternehmen einer klaren Bestimmung, handelt ethisch und moralisch einwandfrei, bietet ausschließlich nachhaltige Produkte und Dienstleistungen an, vermittelt deren Nutzen authentisch und glaubwürdig und schafft um seine Marken ein durchgängig attraktives und in sich stimmiges Kundenerlebnis.
Die meisten Unternehmen sind von dieser Realität allerdings ziemlich weit entfernt. Viele haben in der Vergangenheit Markenerlebnisse eher wie eine 'Truman Show' inszeniert – eine mehr oder weniger große Illusion. Und obwohl unsere heutige Realität dies kaum noch sinnvoll erscheinen lässt, klammern sie sich weiterhin an bekannte Marketing-Mechanismen. Wohlwissend oder zumindest ahnend, dass dies in Zukunft nicht länger erfolgreich sein und gut gehen kann.
Und genau hier lässt sich auch das Problem von Amazon vermuten. Amazon ist ein Produkt der digitalen Welt: Hier entscheiden Maschinen und Algorithmen über den Markterfolg – von der Server-Farm bis zum besten CRM-System, das Kundendaten und –feedback optimal nutzt. Der Mensch spielt hier nur eine untergeordnete Rolle, ist Mittel zum Zweck. Das prägt die Kultur und kann die handelnden Akteure in die Irre leiten. Im Zweifelsfall haben Sie sich über die Arbeitsbedingungen der Leiharbeiter nie wirklich Gedanken gemacht.
Und das bringt uns direkt zur großen P-Frage: ‚Performance’ oder ‚Purpose’? Also der Frage, ob es nur um Leistung (niedrigster Preis, schnellste Lieferzeit etc.), oder auch um Bestimmung und Nachhaltigkeit geht? Welcher der beiden Aspekte treibt oder sollte am Ende das Geschäftsmodell und die Kultur von Amazon treiben?
Hat Amazon eine Antwort auf den Paradigmenwechsel von ‘Performance’ zu ‘Purpose’, bei dem es nicht mehr um ein ‚höher, schneller, weiter’ geht? Will der Online-Händler im Leben der Menschen eine relevante Rolle einnehmen und ihnen dabei helfen, einen nachhaltigeren Lebensstil zu ermöglichen? Oder anders ausgedrückt: Versteht Amazon die sich verändernden Erwartungen und Bedürfnisse seiner Kunden?
Menschen können und wollen heute hinter die Kulissen schauen. Sie interessieren sich in nie gekanntem Maße dafür, woher Produkte kommen und welche Konsequenzen mit ihrem Konsum verbunden sind. Hier erleben wir eine ‚stille’ Revolution, die zu einem drastisch veränderten Kaufverhalten breiter Bevölkerungsschichten führen wird – jenseits der ‚Millenials’, die heute im Fokus dieser Beobachtung stehen. Und kein Unternehmen sollte glauben, dass ein Aussitzen dieser Veränderung und Weitermachen wie bisher eine erfolgreiche Strategie sein könnte.
Im Gegenteil: Unternehmen, die auf diese Frage keine Antwort finden, werden allmählich an Bedeutung verlieren, im Ansehen ihrer Kunden sinken und schlussendlich verschwinden, da sie nicht mehr imstande sind, die sich verändernden Erwartungen und Bedürfnisse zu erfüllen.
In diesem Sinne ist die Debatte um die Leiharbeiter und ihre Arbeitsbedingungen für Amazon gefährlicher, als das Unternehmen vielleicht denkt – und sollte auf keinen Fall ausgesessen werden.
Amazon sollte dieses ‚wertvolle Kundenfeedback’ vielmehr als Chance nutzen, tatsächlich etwas zu ändern. Die Kündigung des Sicherheitsdienstes ist hier sicherlich ein erster Schritt, kann aber auch schnell als Suchen und Finden eines Sündenbocks gedeutet werden – quasi als ‚White-Washing’, wo man selbst nicht zu einer echten Veränderung bereit ist. Hier muss Amazon also weiter gehen und hat die Chance, mit der Macht als Marktführer wirklich etwas zu bewegen.
Denn in der Tat lässt sich vermuten, dass Amazon nicht der einzige Online-Händler ist, der mit dem aufgezeigten Problem konfrontiert ist – bis hin zu den polnischen Hilfskräften für die Erdbeer- oder Spargelernte. Nur redet gerade niemand über sie.
Fazit: Am Ende sitzen wir alle im selben Boot
Wenn Amazon diese Chance nun konsequent nutzt, sind aber auch wir als Kunden gefordert die Konsequenzen in Form gegebenenfalls höherer Preise oder Lieferzeiten zu tragen. Tun wir dies nicht, veranstalten wir hier nur einen Sturm im Wasserglas auf Basis unserer eigenen Lippenbekenntnisse.
Über den Autor: Felix Stöckle ist Managing Director bei Landor Associates; eine weltweite Markenberatung für Strategie, Design und Kommunikation aus Hamburg.