Max Josef Strauß: „Griechen hätten die radikale Linke wählen sollen“

Max Josef Strauß, Sohn des CSU-Urgesteins Franz Josef Strauß.
München. In unruhigen Zeiten gibt es die schnellsten Karrieren. War Napoleon bei Ausbruch der Französischen Revolution 1789 ein kleiner Feldwebel, so kannte bis vor kurzem so gut wie niemand in Europa die Abkürzung Syriza, das Wahlbündnis der Koalition der radikalen Linken in Griechenland und ihren Vorsitzenden Alexis Tsipras, das über Nacht angeblich zur einer existentiellen Bedrohung Europas wurde. Es lohnt ein Blick in die griechische Nachkriegsgeschichte, um zu einem differenzierteren Urteil zu kommen.
Seit dem Ende der unrühmlichen Militärdiktatur 1974 hatten in Griechenland Nea Dimokratia (ND) und Pasok regiert und das Land strukturell ruiniert. Die Protagonisten dieses undurchdringlichen Machtkartells kamen immer wieder aus denselben Familien, Positionen in Staat wurden an ein gigantisches, laufend anwachsendes Klientel verteilt. Der Staat verkam zum Selbstbedienungsladen der Parteien. Pasok war mehr oder weniger der Familienbetrieb der Papandreous, unter Vater Andreas Georgiou Papandreou als Ministerpräsident (1981-89 und 1993-96) brachen alle Dämme gegen die Korruption.
Dieses System war 1996 gescheitert, aber Pasok konnte sich mit der Wahl von Kostas Simitis an der Macht halten, dem als Reformer auch in Europa viel Vertrauen entgegengebracht wurde.
In der Pasok konnte sich Simitis aber nur durchsetzen, indem der den Sohn des Parteigründers mit Namen Andreas Papandreou als Außenminister in eine zentrale Stellung holte. Simitis gelangen tatsächlich einige Reformen, aber das morastige Politsystem blieb im Großen und Ganzen erhalten, die Kraft, mit dem Fakelaki-Sumpf und morschen Staatsstrukturen aufzuräumen, hatte Simitis nicht.
Sein größter politscher Triumph sollte Griechenland einer Tragödie ganz im klassischen Sinne nahebringen: zum 1. Januar 2001 trat Griechenland der Europäischen Währungsunion bei, zum folgenden Jahreswechsel wurde der Euro als Bargeld eingeführt und die Drachme verschwand.
Kostas Simitis hatte besonders in Deutschland hohes Ansehen. Er hatte in Marburg von 1954 bis 57 Rechts- und Wirtschaftswissenschaften studiert. Den Häschern der griechischen Diktatoren entflohen machte er 1971-75 Karriere als ordentlicher Professor für Handels- und Bürgerliches Recht an der Universität Gießen. Der gemeinsame Kampf gegen das Obristen-Regime in Athen führte ihn zusammen mit zahlreichen vornehmlich linken Jungpolitikern.
Die waren 1998 mit Gerhard Schröder (SPD) an die Macht gekommen und förderten nun den mittlerweile zum Premierminister avancierten Simitis nach Kräften. Dabei wurde so manches griechische Defizit vom Prestige Simitis‘ überdeckt und das Prinzip Hoffnung vernebelte neben so manchem Glas Wein und Ouzo den Blick auf die griechischen Zahlen und Realitäten, insbesondere darauf, dass das politische System und die staatliche Verwaltung bei weitem EU-Standards nicht genügte.
Griechenland avancierte zum größten Subventionsempfänger der EU, die sachgerechte Verwendung der geschenkten Gelder kontrollierte niemand, womit auch die EU zum Bestandteil des Fakelaki-Systems wurde. Gleichzeitig verschwanden viele Betriebe, bei denen der üppige Sozialstaat die Arbeit unrentabel machte. Seriöse ausländische Investoren wurden von der korrupten Staatsstruktur vertrieben. Durch die Euro-Einführung flossen riesige Mengen an viel zu billigen Krediten, Griechenland schwamm im unverdienten Geld.
Simitis hatte die finanzielle Basis geschaffen, dass die nie zur wirklichen Staatsreform gezwungenen traditionellen Kräfte die Macht wieder übernehmen konnten. Er musste aufgeben, Andreas Papandreou wurde 2004 Spitzenkandidat der Pasok, sein ND-Gegner Kostas Karamanlis, Neffe des Parteigründers, langjährigen Premierministers und Staatspräsidenten Konstantin Karamanlis, gewann die Wahl und machte als Premierminister ganz im alten Stil weiter. 2009 löste ihn wiederum Andreas Papandreou ab, weil er zaghafte Sparversuche Karamanlis‘ im Wahlkampf angeprangert hatte und versprach, Löhne und Gehälter, Renten und Sozialleistungen deutlich anzuheben. Papandreous Slogan zur Parlamentswahl 2009 lautete bezeichnenderweise: „Das Geld ist da!“.
Nach seiner Wahl zum Premierminister musste Papandreou feststellen, dass das Geld eben nicht da war. Er klopfte bei der EU und ihren führenden Regierungen um Hilfe an und versprach im Gegenzug Reformen. Nun nahmen sich die die EU, Bundeskanzlerin Merkel und Staatspräsident Sarkozy der Sache an … und schickten wieder nur Geld zur Fortsetzung des Politsumpfs, anstatt Reformen zu erzwingen. Zu Papandreous Amtszeiten kassierten weiter Phantomrentner und Sozialbetrüger mit Beziehungen und, weil auch die andere Seite zu bedienen war, wurde großzügig auf den Steuereinzug bei den Reichen verzichtet.
Als die vorhandenen Töpfe erschöpft waren, ging man bis hart an die Grenze des offenen Rechtsbruchs: Die EZB begann, griechische Staatsanleihen aufzukaufen. Zwar ist nach den Lissabon-Verträgen der EU in Art. 123 Abs. 1 AEUV die Kreditvergabe der EZB an EU-Mitgliedsländer ausdrücklich verboten, aber nur der „unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln“. Diese Bestimmung wurde dahin verbogen, dass sich die griechischen Anleihen, die niemand mehr haben wollte, angeblich am Markt bewährt hätten und daher der Ankauf durch die EZB zulässig sei. Papandreou war weiter finanziert, in Griechenland wurde beim Mittelstand und kleinen Leute gewaltig gekürzt, Sozialbetrüger und Steuerhinterzieher blieben unbehelligt, die Zeche sollten die griechischen Beschäftigten, deren durch Steuerabzug vom Arbeitgeber bezahlte Lohnsteuer Griechenlands wesentliche Einnahmen bildete, und die kleinen Leute zahlen. Als wieder Ebbe in der Kasse war, wurden die europäischen Finanzierungsinstrumente EFSF und ESM gegründet und ein Kapitalschnitt der griechischen Anleihen durchgeführt.
In Griechenland regierten mittlerweile unpolitische Fachleute als Premierminister und setzten die mit der EU vereinbarte Sparpolitik um. Auf Maßnahmen zur Sicherung des Steuereinzugs neben der Lohnsteuer verzichtete die EU vollständig. Wenigstens den Sozialbetrügern rückte man mit europäischer Hilfe zu Leibe, die Steuerbetrüger blieben weiter unbehelligt. Nach einer Parlamentswahl 2012 war Griechenland unregierbar, weil das bisherige Machtkartell aus ND und PASOK nunmehr gemeinsam keine Mehrheit mehr hat, die früher jede Partei allein auf sich vereinigen konnte.
Und nun tauchte auf einmal Alexis Tsipras als Spielverderber auf. Ein Linksradikaler, in dessen Bündnis Syriza sich scheinbar alle Schreckensheere längst vergangener kommunistischer Zeiten befinden. Der ausländische Mächte beschimpfte, vom Austritt aus dem Euro sprach, die Schuldenzahlung verweigern wollte, die Wiedereinführung der Drachme androhte und ein europäisches Horrorszenario befürchten ließ? Nun haben angeblich die Euro-Befürworter die Wahlen gewonnen.
Flugs werden einfach die Parlamentssitze von ND und PASOK zu einer Pro-Euro-Regierungsmehrheit zusammengezählt und das Wahlergebnis begrüßt. Das mit internationalen Kreditgebern vereinbarte Programm solle Griechenland zurück auf den Weg wirtschaftlicher Stabilität führen, erklärte Bundesfinanzminister Schäuble. Diese Einschätzung geht nach meiner Meinung an den griechischen Realitäten vorbei.
Syriza ist wohl die einzige Möglichkeit, dass die Griechen aus eigener Kraft die bisherigen korrupten „Eliten“ ablösen könnten, weil es den Rücken frei hat und nicht auf vergangene Verstrickungen Rücksicht nehmen muss. Dass Tsipras mit dem Ausstieg aus dem Euro – und den damit verbundenen Verlusten der Gläubiger Griechenlands – drohte, sollten wir ihm als notwendigen Theaterdonner und Wahlkampfrhetorik zubilligen. Es spricht viel dafür, dass auch eine Regierung Tsipras alles unternommen hätte, um im Euro verbleiben zu können. Auch dort weiß um den Rückschlag, der Griechenland bei einem Rückfall in die Drachme drohen würde, nämlich eine bestenfalls zweitklassige Währung als dauernde Herabsetzung und Entwürdigung der griechischen Bürger und auf Jahrzehnte ein Dasein als billiger Zulieferer und Urlaubsort der Reichen dieser Welt..
Und die kommunistischen Schreckensheere? Wir sollten uns vielleicht an unsere eigene Geschichte erinnern, nämlich daran, dass 1968 auch bei uns Protestierer in Massen hinter den Bildern kommunistischer Unterdrücker und Diktatoren herliefen, um das bürgerliche Establishment zu erschrecken. Aus ihnen gingen im Laufe der Jahre viele demokratische Parlamentarier und Bundesminister hervor, die so gar nichts mit den Bildern gemein haben, hinter denen sie mal hergelaufen sind.
Das demokratische System hat sie domestiziert, wie umgekehrt in Zeiten fehlender demokratische Strukturen und ohne wertorientierten sanktionsfähigen Staat gutbürgerliche Existenzen zu Unterdrückern, ja unglaublichen Verbrechern wurden. Wir sollten hier der griechischen Demokratie vertrauen. Dass so eine Wende möglich ist, hat zuletzt der ehemals radikale Arbeiterführer Lula gezeigt, der zu einem allseits geachteten Präsidenten Brasiliens aufstieg.
Lesenswert ist in diesem Zusammenhang ein Gastkommentar Tsipras für die deutsche „Financial Times“, in dem er seine Rettungsprogramm für Griechenland vorstellt:
- „langfristig angelegter Plan zur Stabilisierung der Schulden und unseres Haushaltsdefizits“
- „die korrupten und ineffizienten politischen und regulatorischen Systeme Griechenlands aus der Welt schaffen“
- „Griechenlands systemische Haushaltsprobleme sind zu weiten Teilen durch die geringen Einnahmen der öffentlichen Hand begründet“
- „öffentlichen Ausgaben sollen sich bei rund 44 Prozent des BIPs einpendeln“
- „das Steuerregime soll so überarbeitet werden, dass das Vermögen und die Einnahmen der Bürger festgestellt werden und die Steuerlast anschließend gerecht verteilt wird“
Das sind die Formeln, die die europäischen Demokratien zu Wohlstand, Stabilität und Anerkennung geführt haben, die weit weg sind von kommunistischer Bilderstürmerei. Dieses positive Bild Tsipras‘ beruht allerdings zugegebenermaßen auf der Hoffnung, dass nicht auch er der Versuchung so vieler griechischer Politiker erlegen ist, seine Aussage an den Wünschen des jeweiligen Publikums auszurichten.
Griechenlands Wähler waren nach den Meinungsumfragen bis kurz vor der Wahl zum großen Teil unentschlossen. Europäischer Druck und Syrizas primitive Polemik in der Wahlkampfschlussphase haben sie am Schluss zögern lassen, den Sprung zu neuen Mehrheiten zu wagen. Die Wähler wollten vor allem den Euro behalten und den Absturz in die 2. oder 3. Liga vermeiden.
Syriza war zu sehr Protestpartei und nicht fähig, neue Visionen für Griechenland zu entwickeln. Es erschien am Ende zu unerfahren und nicht in der Lage, dominant die Regierungsverantwortung zu übernehmen, was insbesondere die Wähler im wirtschaftlich stärkeren Nord- und Zentralgriechenland letztendlich abschreckte.
Nun steht eine äußerst schwierige Regierungsbildung bevor. Die siegreiche ND will eine Koalition mit PASOK und womöglich DIMAR (Demokratische Linke), was rechnerisch zu einer breiten Mehrheit reicht. PASOK jedoch will Syriza unbedingt in die Regierung einbinden, weil sie um das eigene Überleben fürchten muss, wenn Syriza sich für die Fundamentalopposition entscheidet.
Bei einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation könnte das linke Lager nahezu vollständig zu Syriza überwechseln und PASOK das politische Ende bereiten.
Nahezu alle Kommentatoren übersehen, dass Griechenlands Zukunft entscheidend davon abhängt, dass die Verwaltung insbesondere im Bereich der Steuern neu aufgebaut wird. Dieser Sektor beinhaltet auch das größte Gefahrenpotential für das bisherige Machtkartell ND und PASOK, weil die bisher von diesen Parteien geführten dafür zuständigen Behörden und Ministerien durch und durch korrupt sind. In deren Unterlagen schlummert noch so mancher Skandal, der für Politiker der alten Parteien das Aus bedeuten könnte. Hier ist den von der EU entsandten Beamten um den Deutschen Klaus Regling bisher nicht der geringste Erfolg beschieden.
So wird um die Besetzung des Finanz- und Justizministeriums heftig gerungen werden, wenn Syriza in die Regierung eintreten soll. Syrizas Erfolg hängt aber davon ab, sich nicht korrumpieren zu lassen von den Kräften der Vergangenheit, und die eingefahrenen Bahnen griechischer Politik zu verlassen in Richtung eines modernen Europa. Deren Wähler wollen Erfolge sehen gegen die Korruption und Staatswillkür, wie nahezu jeder Fernsehbeitrag zeigt. Sonst wäre das Wahlbündnis genauso schnell verschwunden, wie es gekommen ist.
Hier entscheidet sich auch das Schicksal Europas und seiner Steuerzahler. Eine moderne Volkswirtschaft braucht ein funktionierendes Einkommensteuersystem, sonst ist ein Staat nach europäischen Vorstellungen nicht zu finanzieren. Korrupte Staatsstrukturen akzeptieren seriöse Investoren nicht in Europa, wo die Aufdeckung skandalöser Zustände und Druck der EU droht. Scheitert der Aufbau einer modernen Verwaltung in Athen, ist ein wirtschaftlicher Aufschwung nahezu ausgeschlossen, was zu massiven sozialen Problemen führen würde.



Dann droht das Land dauerhaft zum teuren Kostgänger Europas zu werden, und niemand braucht davon zu träumen, dass dann die griechischen Staatsanleihen jemals zurückbezahlt werden. Der europäische Steuerzahler müsste dann im Namen der Euro-Rettung diese Last schultern, was ein schlimmes Signal an andere süd- oder osteuropäische Verwaltungen und eine schwere Hypothek für den europäischen Einigungsprozess wäre.






