Nina Chrustschowa: Russland rennt im Hamsterrad der Geschichte

Nina Chruschtschowa ist Senior Fellow am World Policy Institute in New York.
Moskau. Strategische Vision war noch nie ein russisches Markenzeichen und auch im Jahr 2012 war davon absolut nichts zu erkennen. Russlands riesiges Territorium scheint seiner Führung weiterhin den Blick für die Notwendigkeit einer Zukunftsplanung zu verstellen. Zudem ist man überzeugt, dass die scheinbar unerschöpflichen Bodenschätze es dem Land ermöglichen, jede Unwägbarkeit zu bewältigen.
Aus diesem Grund geht Russland stets unvorbereitet in die Zukunft. Ebenso wie die russische Staatsführung es in der Vergangenheit versäumte, sich auf den Fall des Kommunismus vorzubereiten, zeigt die heutige Schwäche der russischen Wirtschaft, dass man auch für die kommenden Jahrzehnte schlecht gerüstet ist, die von erschöpften Ressourcen, schwindenden Bevölkerungszahlen und einem sich verkleinernden Staatsgebiet geprägt sein werden.
Wladimir Putins diesjährige Rückkehr in das Präsidentenamt markiert einen neuen Tiefpunkt im Hinblick auf eine strategische Vision Russlands. Schließlich ist die Vergangenheit die einzige Zukunft, die Putin für das Land jemals anstrebte.
Als die Sowjetunion zusammenbrach, verlor der Kreml nicht nur die Kontrolle über riesige Teile des Staatsgebietes, sondern auch die Hälft der beinahe 300 Millionen Einwohner der UdSSR. Seit damals ist die Bevölkerungszahl aufgrund der vor allem unter Männern hohen Sterblichkeitsrate um weitere Millionen Menschen gesunken. Im gleichen Zeitraum wuchs die Bevölkerung der Vereinigten Staaten von 248 auf über 300 Millionen Menschen.
Trotz der Forderungen der russischen Öffentlichkeit nach Reformen – von der Modernisierung des Militärs sowie der heruntergekommen und korrupten Rechtsinstitutionen bis hin zur Diversifizierung einer auf die Ausbeutung von Bodenschätzen und den militärisch-industriellen Komplex konzentrierten Wirtschaft – ist Putin der autokratischen Sache treu geblieben.
Als Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow sich anschickte, die russischen Streitkräfte zu reformieren – durch verbesserte Ausbildung in modernen Abwehrtechniken, Kosteneinsparungen und Effizienzsteigerung – wurde er durch den früheren Gouverneur von Moskau und eingefleischten Putin-Anhänger Sergei Schoigu ersetzt, der das veraltete System umgehend wiederbelebte. Sogar die neuen Uniformen der Armee, die mit ihren Schulterklappen im Stil des 18. Jahrhunderts und den Jacken im Weltkriegslook an der Grenze des Komischen vorbeischrammen, beschwören eher die Vergangenheit, als die für moderne Kriegsführung erforderliche Annehmlichkeit und Effizienz zu bieten.

„Russland liefert niemals niemanden nirgendwohin aus und plant dies auch nicht.“
Kremlchef Wladimir Putin über den Fall des von den USA gejagten Informanten Edward Snowden, der im Transitbereich des Moskauer Flughafens Scheremetjewo festsitzt. Auf dem Bild taucht er allerdings gerade ab - und zwar im Mini-U-Boot. Über seine Fahrt im Tauchboot ließ der sportliche Präsident wie üblich bei solchen Unternehmungen das öffentlich-rechtliche Fernsehen berichten.

„Wenn er hierbleiben möchte, gibt es eine Bedingung: Er sollte mit seiner Arbeit aufhören, die dagegen gerichtet ist, unseren amerikanischen Partnern Schaden zuzufügen - so merkwürdig sich das aus meinem Mund auch anhören mag.“
Wladimir Putin am Montag über den Fall des von den USA gejagten Informanten Edward Snowden.

Und hier lässt er sich auf eine Fahrt in einem Mini-U-Boot ein. Eine besonders spektakuläre Expedition lieferte einmal Bilder Putins, wie er im Pazifik Wale mit einer Armbrust jagte. Allerdings nur mit dem Ziel, ihnen Peilsender zu verpassen.

Auch eine Waffe nimmt der Kremlchef zu Hand bei seinen Show-Streifzügen durch die sibirische Wildnis.

„Ich habe vielleicht in der Universität nicht das allermeiste gelernt, weil ich in der Freizeit viel Bier getrunken habe. Aber einiges habe ich doch behalten, weil wir sehr gute Dozenten hatten.“
Mai 2005 über sein Studium. Das mit dem Bier gilt wohl immer noch...

„Wenn ihr den ganzen Tag Scheiße über mir ausschüttet, bin ich nicht beleidigt. Aber Sie sind beleidigt, dabei habe ich nur zwei Worte gesagt.“
Putin im Januar 2012 zu dem Journalisten Alexej Wenediktow, nach dem er seinem Radiosender Moskauer Echo „Gequassel“ vorgeworfen hatte. Der Tag war wohl ganz gut. Denn hier spielt er auf einem Charity-Konzert für Kinder.

„Niemand will, dass die G8 zu einer Ansammlung fetter Kater wird.“
Januar 2006 über die Rolle Russlands in der Gruppe der führenden Industrienationen. Nach fetten Katern sehen Merkel, Putin (links) und der damalige US-Präsidenten Bush aber gar nicht aus, oder?

Wobei er hin und wieder auch angezogen auf die Jagd geht.

Für Kremlchef Wladimir Putin ist das Jahr 2016 so gut gelaufen wie für kaum einen anderen Politiker. Russland bestimmt, was in Syrien geschieht. Barack Obama wird von Donald Trump abgelöst, der das Verhältnis zu Moskau verbessern will. Und die internationale Isolation des Kremls scheint auch vorbei. Aber warum genau ist Putin derzeit so stark?

„Schießen können sie, aber keine Ordnung schaffen.“
Oktober 2007 zur US-Militärpolitik im Irak. Hier hat er allerdings nur ein Bomber-Modell in der Hand.

„Ich werde (Georgiens Präsidenten Michail) Saakaschwili an den Eiern aufhängen.“
November 2008 auf die Frage von Frankreichs Präsident Nicholas Sarkozy nach Russlands Plänen im Krieg gegen Georgien. Hier sitzt Putin auf einer Konferenz in Moskau.

„Russland verhandelt nicht mit Terroristen. Es vernichtet sie.“
Putin nach dem Anschlag auf die Moskauer U-Bahn im Februar 2004.

Seinen freien Oberkörper präsentiert Wladimir Putin auch, wenn er nicht im Wasser ist, sondern wie hier auf dem Rücken eines Pferdes sitzt...

Wladimir Putin testet Waffen und Fahrzeuge eben gerne selbst aus. Hier besteigt Putin im Ural gerade einen Panzer.

„Die ganzen acht Jahre habe ich wie ein Sklave von morgens bis abends geschuftet.“
Februar 2008 über seine Zeit als Präsident im Kreml. Peinlich wurde es, als Putin 2011 vor laufenden Kameras vor der Taman-Halbinsel im Süden Russlands im Neoprenanzug in die Ruinen der antiken griechischen Stadt Phanagoria abtauchte, um von dort zwei antike Vasen hochzubringen. Angesichts skeptischer Berichte unabhängiger Medien musste sein Sprecher Monate später einräumen, dass es sich um eine Inszenierung gehandelt hatte. Kritiker hatten Verdacht geschöpft, weil auf den angeblich aus dem sechsten Jahrhundert stammenden Amphoren keine Spuren von Algen oder Muscheln zu sehen waren.

„Wenn Sie aber islamische Radikale werden wollen und deshalb bereit sind, eine Beschneidung vorzunehmen, dann lade ich Sie nach Moskau ein. Wir sind ein Land mit vielen Konfessionen, und wir haben gute Ärzte. Wir empfehlen diese Operation so durchzuführen, dass Ihnen nichts mehr nachwächst.“
November 2002 während des EU-Russland-Gipfels auf die Frage eines Journalisten nach dem Vorgehen der russischen Armee gegen die Zivilbevölkerung in Tschetschenien. Selbst beim Arzt lässt er sich fotografieren. Auch wenn es nur um eine kaputte Schulter geht.

„Unsere russischen Frauen sind die begabtesten und die schönsten“.
April 2008 bei einem Besuch in Rom auf die Frage nach seinem Privatleben. (Foto: Putin-Anhängerinnen gehen für den Staatsmann auf die Straße)

„Der Dieb muss im Gefängnis sitzen.“
Dezember 2010 live im Staatsfernsehen zu einer neuen Verurteilung seines inhaftierten Kritikers Michail Chodorkowski. Putin hingegen kann offenbar alles, denn hier sitzt er auf der Bank des Eishockey-Teams.

... holt sich Putin einen tollen Hecht an Land. 2013 etwa zog er ein 21 Kilo schweres Exemplar aus dem Wasser, wie damals der Kreml mitteilte.

Wladimir Putin beim Schießtraining in der Halle.

Fotos von Putin in diesem Aufzug sind geradezu eine sommerliche Tradition. Der Kreml zeigt den Bürgern regelmäßig, wie der Staatschef als harter Mann durch die Wildnis streift.
In einem noch unheilvolleren, an die Stalin-Zeit erinnernden Schritt, initiierte Putin ein Anti-Extremismus-Gesetz, wonach jeder wegen Terrorismus, Spionage, der Verbreitung von Hass oder als ausländischer Agent angeklagt werden kann.
Das Gesetz hat sich als starke Waffe zur Unterdrückung von Widerspruch erwiesen, zu dem auch Massenproteste gegen Wahlbetrug, Korruptionsaufklärung durch Journalisten oder die Erfüllung eines Kundenwunsches durch einen sibirischen Bibliothekar zählen, der ein verbotenes Buch auftreibt.
Ebenso bleibt auch Putins Außenpolitik in alten russischen Obsessionen verstrickt, angefangen bei der Intention, das Imperium in irgendeiner möglichen Form wiederherzustellen. In seinem Bestreben, zu beweisen, dass der Verlust des imperialen Status, Russlands globale Rolle nicht beeinträchtigt, mischt sich Putin unablässig in internationale Entscheidungen ein, lehnt Sanktionen gegen den Iran ab und unterstützt das Regime des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad, obwohl es die eigenen Bürger abschlachtet.
Obwohl Russland schließlich Mitglied der Welthandelsorganisation wurde, bestehen weiterhin Zweifel an der Menschenrechtsbilanz des Landes. Im Jahr 2009 beispielsweise wurde der Rechtsanwalt Sergei Magnitski wegen Untreue angeklagt, nachdem er ein von russischen Beamten betriebenes betrügerisches System der Steuerrückerstattung aufgedeckt hatte. Er starb im Gefängnis, nachdem man ihn misshandelt und ihm die medizinische Behandlung verweigert hatte.
Als Reaktion darauf hat der US-Kongress soeben das Sergei Magnitski-Gesetz über Rechenschaftspflicht im Rechtsstaat verabschiedet, das jeder Person, die in die Inhaftierung und und den Tod Magnitskis verstrickt ist – sowie auch anderen Menschen, denen schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen zur Last gelegt werden – die Einreise in die USA sowie die Nutzung ihres Bankensystems verbietet.
Ähnliche Gesetze wurden auch in Kanada und Westeuropa verabschiedet. Aber statt das Verbrechen einzuräumen und die Täter vor Gericht zu bringen, schlägt die russische Führung zurück und erklärt, dass man gewissen Europäern und Amerikanern im Gegenzug auch die Einreise nach Russland verwehren werde.
Mit seinem Widerwillen, auf die öffentliche Unzufriedenheit zu reagieren und seinem Versagen, während seiner 12-jährigen Amtszeit Beziehungen zum Westen aufzubauen, hat sich Putin in die Ecke manövriert – und nun gehen ihm die Ideen aus. In seinem jüngsten Versuch zur Wiederherstellung des russischen Imperiums kündigte er die Schaffung einer Eurasischen Union mit Weißrussland und Kasachstan an. (Putin hofiert auch andere ex-sowjetische Länder Zentralsasiens sowie die Ukraine und Georgien).
Aber sogar dabei drangsaliert der Präsident genau jene Staatsführer, die er eigentlich umwerben möchte. Da die Teilnahme der Ukraine die Legitimität der Union bedeutend erhöhen würde, wendet Russland alle erdenklichen Taktiken an – von niedrigeren Gaspreisen bis hin zu Handelssanktionen – um die ukrainische Führung von einer Teilnahme an der Union zu überzeugen. Aber der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch, der sein eigenes aggressives Image pflegt, will nichts davon wissen.
Putins Bestrebungen, die ehemaligen Sowjet-Staaten zu vereinen, ist beileibe nicht die einzige Initiative, die seine fehlerbehaftete Vision verdeutlicht. Um bei den Staatschefs der rasch wachsenden Ökonomien Ostasiens Eindruck zu schinden – die Putin als den wichtigsten Faktor für den langfristigen Erfolg Russlands bezeichnet – gab die russische Regierung heuer Milliarden Dollar für die Modernisierung des heruntergekommenen Hafens von Wladiwostok aus.
Da aber die asiatischen Führungen Russland lediglich als eine Melkkuh für Bodenschätze betrachten, steht bei weitem noch nicht fest, dass sich die Investition auch lohnen wird, vor allem, weil es an einem umfassenden Plan für die wirtschaftliche Entwicklung der Region mangelt.



Putin hofft, durch eine rigorose Politik im In- und Ausland Russland im Würgegriff zu halten. Sichergestellt ist damit jedoch lediglich der Niedergang des Landes. Mit Beginn des Jahres 2013 ist Russland zurück im Hamsterrad der Geschichte, wobei man die Vergangenheit als Vorspiel der Zukunft betrachtet. Damit verschwendet das Land seine Ressourcen und zerstört das Leben seiner Menschen.
Nina L. Chruschtschowa ist die Urenkelin von Nikita Chruschtschow, Autorin von Imagining Nabokov: Russia Between Art and Politics, lehrt Internationale Beziehungen an der New School und ist Senior Fellow am World Policy Institute in New York.






