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Ein Plädoyer von Gabor SteingartWozu wählen?

Es gibt dutzendfach Gründe, dem Parteienstaat eins auszuwischen und nicht wählen zu gehen. Aber das ist keine Option mehr. SPD, CDU und Co. mögen Dinosaurier sein, aber drumherum sind Monster entstanden. Ein Plädoyer.Gabor Steingart 23.09.2017 - 16:26 Uhr Artikel anhören

Der Nichtwähler sollte am Sonntag tapfer sein und wählen gehen, auch weil er als Nichtwähler gescheitert.

Foto: Imago

Das Nichtwählen ist keine politische Straftat. Es handelt sich vielmehr um eine Form der Meinungsäußerung, zu der unser Grundgesetz den Bürger ausdrücklich ermächtigt. Anders als die DDR-Verfassung, in der Wahlpflicht vorgeschrieben war, entschieden sich unsere Verfassungsväter für Wahlfreiheit: Ja, nein, Enthaltung.

Und natürlich gibt es dutzendfach Gründe, dem Parteienstaat auch diesmal wieder eins auszuwischen. Seine Verkrustungen sind unschön anzuschauen. Die beiden großen Parteien ersetzen die notwendige Kraftanstrengung zur Lösung der Zukunftsfragen schon seit längerem durch ein Nicht-Angriffskartell, das sich verharmlosend „Große Koalition“ nennt.

In der Welt der Wirtschaft würde dieses Vorgehen unweigerlich die Monopolkommission und das Kartellamt auf den Plan rufen. Denn die zwei wichtigsten Konkurrenten treffen fortlaufend Absprachen zur Beendigung des Wettbewerbs.

Der entscheidende Grund für den Fortbestand der Großen Koalition ist vor allem dieser: politische Ermattung im Zeitalter der Überforderung. Früher hielt man sich gegenseitig in Schach, heute hält man sich aneinander fest. Eine rhetorische Regierungsform ist in Mode gekommen, in der Wort und Tat nur noch lose miteinander verbunden sind. Bessere Bildung wird im Wahlkampf versprochen und danach routiniert vergessen. Die Überforderung der Sozialsysteme wird eingeräumt, aber nicht gelindert. Die Digitalisierung wird als politische Priorität genannt, aber nicht ernsthaft als solche begriffen.

Das politische Nichtangriffskartell

In unseren großen Parteien kam es zu einem spürbaren Energieabfall. Früher konnte man allein mit der Reibungsenergie, die durch das Schlagen von linkem und rechtem Parteiflügel verursacht wurde, eine mittlere Kreisstadt versorgen. Heute reicht die Energie eines beliebigen CDU-Parteitags kaum noch, ein Handy aufzuladen. Kein Wunder also: Die SPD hat in den letzten 40 Jahren 57 Prozent und die CDU im selben Zeitraum 34 Prozent ihrer Mitglieder verloren.

Es gibt also gute Gründe, dem Parteienstaat ein trotziges „So nicht“ entgegenzuschleudern. Der Nichtwähler, so hatte ich in meinem 2009 erschienenen Buch „Die Machtfrage. Ansichten eines Nichtwählers“ geschrieben, sei nicht die Lösung, aber funktioniere als Sirene, die auf den Schaden aufmerksam mache. Er sagt uns: „Ich kündige den politischen Parteien die Gefolgschaft, weil ich von der Politik deutlich mehr erwarte, mehr Ernsthaftigkeit, mehr Anstrengung und ein Denken in Alternativen. Das Parteiensystem scheint mir nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems zu sein.“

Gabor Steingart ist Herausgeber des Handelsblatts. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Weltbeben – Leben im Zeitalter der Überforderung“.

Foto: Handelsblatt

Die Sirene wurde nicht gehört. Die Kartellbrüder ließen sich durch nichts beirren. So wurden aus Nichtwählern erst Wutbürger und schließlich Protestwähler. Da stehen sie nun mit ihren Trillerpfeifen und bevölkern den rechten Rand des politischen Marktplatzes.

Nichtwählen ist damit keine Option mehr. Die etablierten Volksparteien sind noch immer Dinosaurier, aber drumherum sind Monster entstanden.

Im neuen Bundestag wird erstmals eine rechte Partei vertreten sein, die den Weltkriegssoldaten als Helden und den Ausländer als Sündenbock betrachtet. Damit hat das Parteiensystem keine Alternative, sondern eine Missgeburt hervorgebracht.

Eine Exportnation, die ihre Kunden hasst und ihre Absatzmärkte als feindliche Territorien empfindet, verliert ihr Geschäftsmodell. Eine Kulturnation, die vom Austausch der Gedanken lebt, riskiert ihre Energiebasis, wenn sie anfängt, das Neue und Fremde nicht als Inspiration, sondern als Bedrohung zu empfinden. Hinzu kommt: Eine humanitäre Gesellschaft, die aus den Verirrungen der Großvatergeneration gelernt hat, möchte mit dem anderen nicht Krieg, sondern ein Gespräch führen. Die Fixsterne einer modernen Leitkultur heißen Demokratie, Soziale Marktwirtschaft und Europa, nicht Rammstein, Schweinebraten und Antisemitismus.

Die Funktionäre der AfD müssen gar nicht stigmatisiert werden. Sie stigmatisieren sich in diesem Wahlkampf fortlaufend selbst. Mit diesen Typen ist kein Staat zu machen. Sie werden uns niemals regieren, nur immer wieder beschämen.

Doch die Verdüsterung der Innenpolitik ist nur der kleine Schatten dessen, was sich global über unserem Land zusammenbraut. Deutschland sieht sich umzingelt von den Geistern eines aggressiven Populismus – und des kommenden Krieges.

Geister des Populismus

Ausgehend von den Kampfzonen in Syrien, Afghanistan, Irak, Jemen und Pakistan bilden die neuen Krisenherde in Nordkorea, dem südchinesischen Meer und der Ostukraine eine Zündschnur, die bis in unsere Wohnviertel reicht. Wer das Scheitern der westlichen Außenpolitik besichtigen will, muss keinen G20-Gipfel, sondern nur das nächstgelegene Flüchtlingsheim besuchen. Wir sind Zeitzeuge eines Weltbebens, das mehr als 100 Millionen Menschen dazu gebracht hat, ihren angestammten Wohnsitz zu verlassen. Zugleich ist eine Gruppe von politischen Führern herangewachsen, in Moskau, in Washington, in Istanbul und in Jerusalem, die Diplomatie für ein Zeichen von Schwäche hält. Sie wollen die Welt nicht beruhigen, sondern aufputschen.

Die Deutschen entscheiden am Sonntag darüber, wer sie am Tisch der Mächtigen mit welchem Gewicht vertritt. Putin, Trump und Erdogan schauen sehr genau darauf, mit welchem Mandat Angela Merkel zurückkehrt. Bleibt sie ein Schwergewicht, oder kommt sie als politische Bohnenstange aus dem Wahlkampf zurück? Spricht Deutschland weiter mit fester Stimme, oder wird das Nervöse und Flatterhafte auch hierzulande zur neuen Normalität?

Merkel hat in den vergangenen vier Jahren erkennbar an politischer Substanz zugelegt. Ihre Fähigkeit, Konflikte herunterzukochen und damit einer Lösung zugänglich zu machen, wurde im Ukraine-Konflikt, bei der Euro-Rettung und im Umgang mit der Flüchtlingskrise einem Praxistest unterzogen. Das von Papst Franziskus ausgegebene Motto „Biegen, biegen, nicht brechen“ hat sie zu ihrem gemacht.

Die Welt in ihrem jetzigen Erregungszustand braucht Kräfte der Moderation. Und sie braucht strategische Geduld. Die Probleme in Afrika haben sich schon auf den Weg zu uns gemacht. Die Verzweifelten können das Wort „Obergrenze“ nicht buchstabieren.

Auch Amerika ist für uns Europäer kein bequemer Ort mehr. Die Maßlosigkeit des 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten, seine Aggressivität und sein Glaube an die Überlegenheit des weißen Mannes erfordern eine politische Antwort mit Fingerspitzengefühl.

Nicht nur Europa, auch viele in Amerika schauen in dieser Situation auf die deutsche Kanzlerin. Weltmächte im Abstieg sind gefährlich, weil ihre Nerven blank liegen, weil sie mit Wahrnehmungsproblemen zu kämpfen haben und weil ihre Führer dazu neigen, alles auf eine Karte zu setzen.

Angela Merkel wirkt in dieser Situation beruhigend. Sie ist in diese politischen Verhältnisse im Laufe ihrer nunmehr zwölf Regierungsjahre hineingewachsen. Inmitten dieses Weltbebens, das die tektonischen Platten der großen Mächte überall auf der Welt in Schwingung versetzte, bildet sie ein Gravitationszentrum. Sie kann die Schwingungen der anderen nicht verhindern, aber dämpfen. Sie kann der Gegenwartswelt das Eruptive nicht nehmen, aber darauf hinwirken, dass wir nicht von einer Eruption zur nächsten geschleudert werden.

Merkel und die internationalen Scharfmacher an einem Tisch

Wenn die Internationale der Scharfmacher demnächst die Landkarte neu zu sortieren beginnt, dann hat man eine wie Merkel gern mit am Tisch. In einer Welt, in der düstere Wolken aus aller Herren Länder den Himmel verdunkelt haben, ist sie nicht das helle Licht. Aber die Kerze der Hoffnung ist sie schon.

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Alle anderen großen Gefühle der deutschen Wähler, die Sehnsucht nach Reformen im Innern und der Wunsch nach mehr Vitalität im Parteienstaat, wird sie nicht gleichzeitig bedienen können. Der Wähler muss delegieren. Die Frage, wen er auf ihren Beifahrersitz platziert, ist daher keine gering zu schätzende. Merkel braucht Menschen, die ihr daheim die Geschäfte führen.

Wäre Deutschland eine Aktiengesellschaft, würde man der erfahrenen Vorstandschefin unverzüglich einen jugendlichen Chief Innovation Officer und eine Vorständin für Ökologie und Nachhaltigkeit zur Seite stellen. In Wirtschaftskreisen ist ein bunt gemischtes Führungsteam keine Sensation mehr, sondern eine Selbstverständlichkeit. Schwarz-Gelb-Grün würde Deutschland nicht ruinieren, sondern beleben.

Und der Nichtwähler? Sollte seine demokratische Leidenschaft nicht vergessen, aber fürs Erste einfrieren. Sie wird noch gebraucht. Seine Kritik an den Parteifunktionären – drei Münder, kein Ohr – hat sich nicht erledigt. Sie hat sich im Grunde sogar bestätigt. Die Monster der Neuzeit sind exakt jenen Verhältnissen entsprungen, die er eigentlich verhindern wollte. Das aber darf in diesen Tagen keine Ausrede sein. Oder deutlicher noch ausgedrückt: Der Nichtwähler sollte am Sonntag tapfer sein und wählen gehen, auch weil er als Nichtwähler gescheitert ist. „Das Gegenteil von Spiel ist nicht Ernst“, sagt Sigmund Freud, „sondern Wirklichkeit.“

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