Auktionsnachbericht: Visionäre Haltung

Stuttgart. Der ehemalige Daimler-Chefmanager Edzard Reuter war kein Salon-Sammler, der seine Erwerbungen wie in einem Museum arrangierte. Dicht an dicht pflasterte er mit ihnen die unverputzten Betonwände in seinem Brutalismus-Bungalow der Siebzigerjahre. Hoch über dem Dieter-Rams-Bücherregal hing ein Spiegelscherbenbild von Christian Megert aus dem Jahr 1962, gleich neben der Treppe fand Bernard Aubertins rotgrundige Streichholzgouache „Feu volonté“ von 1962 Platz. Und auf einem weißen Sideboard reihten sich Mary Vieiras in sich bewegliche Plastik „Caré et mouvement espace“, ein Hans-Haacke-Kubus und Adolf Luthers kleine Glaslinsenstele von 1966.
Diese fünf Arbeiten und rund 150 weitere Lose der Avantgarde der Sechziger- und Siebzigerjahre kamen am Mittwoch als Teil zwei der Sammlung Helga und Edzard Reuter im Stuttgarter Auktionshaus Nagel zum Aufruf. Die Auktion zeigte einmal mehr, dass der Markt für Kunst dieser Jahrzehnte nicht nur bei den internationalen Topwerken in Bewegung ist und weit über den ZERO-Kreis hinausragt.
Das auf der Spitze stehende, in sich bewegliche Quadrat der Brasilianerin Mary Vieira steigerten sechs Telefonbieter aus Europa und Brasilien von taxierten 5000 auf 26.000 Euro brutto. Den internationalen Spitzenpreis für diese frühe Arbeit zwischen konkreter und kinetischer Kunst bewilligte der Schweizer Handel. Megerts Rundbild, in dem Spiegelscherben die wiedergegebene Realität zersplittern, übersprang schnell die Taxe von 4000 und wurde für 16.900 Euro weitergereicht.

Rekord für Konkrete Kunst
Beachtliche Ergebnisse spielten drei Reliefs von Klaus Staudt ein. Der heute über neunzigjährige Verfechter der Konkreten Kunst befasst sich seit mehr als sechzig Jahren mit dem Zusammenspiel von systemischer Ordnung, geometrischen Körpern und Licht. In den Sechzigerjahren stand man dieser Ästhetik der strukturierten Klarheit noch skeptisch gegenüber. Heute wird sie als Vorläufer eines Denkens nach algorithmischen Prinzipien gefeiert.
Sein großes, weiß geschlemmtes Strukturbild „17⁰-39⁰“ von 1963, das seine Tiefenwirkung aus den Schattenpartien der in unterschiedlichen Neigungswinkeln gesetzten Holzwürfel bezieht, erzielte mit einem Hammerpreis von 33.000 Euro einen Rekord für diesen Künstler. Erfolgreich war ein Sammler aus Nordrhein-Westfalen, der mit Aufgeld schließlich 43.000 Euro für das Werk bezahlte und sich bei 29.000 Euro auch noch eine gelb-graue Arbeit Staudts von 1965/67 sicherte.
Zehn Bieter konkurrierten kurz darauf um die farblich subtile Komposition „In rhythmischer Wiederholung“ aus dem Jahr 1970. Die von rotem Plexiglas überdeckten weißen und grauen Würfelreihungen gingen für 36.500 in neue Hände.

Insgesamt vermeldete Nagel für die versteigerten Kunstwerke aus Reuter-Besitz einen Umsatz von 915.000 Euro. Das ist mehr als das Doppelte der unteren Taxsumme, die laut Presseabteilung bei 385.000 Euro gelegen hatte.
Doch ein hundertprozentiger Verkauf der Offerte gelang Nagel nicht. Im Gegensatz zu Christie’s in Paris, das sieben Wochen vorher mit fünfzig ausgewählten Topwerken aus dem Besitz der 2024 kurz hintereinander verstorbenen Eheleute einen sogenannten White Glove Sale realisiert hatte. Das teuerste Werk wurde dort mit 1,6 Millionen Euro Yves Kleins „Relief Planétaire terre“ von 1961, gefolgt von Lucio Fontanas „Concetto Spaciale“ mit einer Million Euro. Insgesamt realisierte Christie’s mit den Premiumwerken der Sammlung, zu der auch Gemälde von Pierro Manzoni, Günther Uecker und Enrico Castellani mit Erlösen im sechsstelligen Bereich gehörten, einen Umsatz von 7,5 Millionen Euro.
Frühe Werke der Avantgarde
Aber Edzard Reuter war kein elitärer Sammler, der sich nur für Blue Chips und spektakuläre Werke interessierte. Als Konzernlenker, der zur strukturellen und internationalen Öffnung von Daimler-Benz beitrug, besaß er wie als Kunstkäufer eine visionäre Haltung. An der Kunst reizte ihn der Vorstoß in neue Sphären, gekauft hat er frühe Werke der Avantgarde. „Und ohne zu verhehlen, dass der Name Reuter für viele Sammler eine Rolle spielte, hat unsere Auktion gezeigt, dass Sammler bereit sind, Geld auszugeben, wenn die Qualität stimmt“, sagte Gerda Lenßen-Wahl, Nagels Expertin für zeitgenössische Kunst, dem Handelsblatt. Zu dieser Kategorie gehörten gut 30 Prozent des Nagel-Angebots.
Von taxierten 15.000 auf 36.400 Euro etwa kletterte der Preis für ein frühes, flaches Gemälde von Gotthard Graubner, das wie ein konzeptioneller Vorläufer seiner Kissenbilder wirkt. In der konventionell in Öl auf Leinwand gemalten Arbeit „ch’üan“ von 1960 hat er den später für ihn typischen, wolkigen Farbauftrag bereits vorweggenommen. Als monochromes, informelles Relief hat Hermann Goepfert, der sich der ZERO-Bewegung nahe fühlte, 1960 sein „Weißbild W59/60“ angelegt. In Stuttgart wurde es für 23.400 Euro verkauft.
Das Gemälde „Erste Durchdringung Blaugrün auf Ocker“ von Almir da Silva Mavignier erforderte, nachdem ein brasilianischer Konkurrent ausgestiegen war, von einem deutschen Op-Art-Sammler letztlich 28.600 Euro. Von den weniger attraktiven Kunstwerken blieb vieles im Rahmen der niedrigen Taxen. 17 Prozent des Angebots ging in den Nachverkauf.

Die am selben Tag versteigerten Design-Stücke aus dem Hause Reuter sowie der Schmuck erzielten zusammen einen Umsatz von 85.000 Euro. Nutznießer beider Auktionen ist die Helga und Edzard Reuter Stiftung, die sich für integrative Projekte engagiert.
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