Sammlerinnenporträt: Im Dschungel der Gegenwartskunst

München. Wenn es um Leihgaben von Werken jüngerer etablierter Künstler und Künstlerinnen geht, steht die Münchener Sammlerin Regine Thiess trotz ihres alphabetisch ungünstigen Nachnamens wahrscheinlich ganz vorn im Notizbuch vieler Museumskuratoren. Denn sie besitzt nicht nur Werke von Museumsformat, etwa von der gattungsübergreifenden Documenta-Teilnehmerin Anne Imhof, vom amerikanischen Tintendrucker-Artist Wade Guyton oder der gerade gefeierten postdigitalen Künstlerin Bunny Rogers: Sie verleiht sie auch großzügig und gratis. „Wer ernsthaft Kunst sammelt, ist doch bestrebt, dass sie aus dem Privatumfeld heraustritt und in Museumsausstellungen kommt, wo aktuelle Diskussionen geführt werden“, beschreibt sie diese Seite des Sammelns.
Momentan hat Regine Thiess der Pinakothek der Moderne in München mehrere Werke für die Ausstellung „Eccentric“ zur Verfügung gestellt. Dazu gehört die Plastik „Climber“ der Schwedin Anna Uddenberg, in deren Werk Thiess die durch Perfektionszwang dekonstruierte Frau unserer Zeit sieht. Oder auch Jana Eulers „Try one in abstraction with manpower under control of aesthetik decision“. Das Gemälde der deutschen Malerin zeigt die bronzefarbenen Muskelpanzer eines Bodybuilders mit hervortretenden Adern und ist für Thiess eine faszinierende, sehr moderne Art der Körperdarstellung.
Beide Arbeiten deuten unmissverständlich den roten Faden dieser Sammlerin an. „Mein Thema ist die Verletzlichkeit und Fragilität des Daseins in all seinen Facetten“, definiert sie im Gespräch mit dem Handelsblatt ihr Sammlungskonzept. Oft sind es weibliche Positionen, die sie ansprechen. Ihr Sinn für die verborgenen psychologischen Schichten von Kunst macht sie anscheinend besonders empfänglich dafür.
Dass das Glatte, Gefällige, Dekorative in dieser Sammlung keinen Platz hat, wird besonders im Haus des Ehepaars Thiess deutlich. Vom Eingang bis zum Dachgeschoss – Kunst mit Reibungspotenzial und Kunst, die für ästhetische Verschiebungen steht. Im Parterre ein Bild von Jonathan Meese, im ersten Stock eine Version von Isa Genzkens Nofretete-Installation. Monica Bonvicinis Neonröhrenobjekt schwebt vis-à-vis einer Leuchtkasten-Fotoarbeit von Seth Price aus dem Jahr 2018. Abgebildet sind ein paar Quadratzentimeter Mannequin-Haut, die unter der Vergrößerung ihre samtene Anmutung verloren hat.
Nur zwei Schritte davon entfernt hängt seit gut einem Jahr ein Gemälde der mit doppeldeutiger Bildsprache arbeitenden Nicole Eisenman. „Support Systems for Women, No. 1“ von 1998 ist unübersehbar eine feministische Anspielung. Für die Kunsthistorikerin Eva Karcher, die gemeinsam mit Bernhart Schwenk von der Pinakothek der Moderne die „Eccentric“-Ausstellung kuratierte und die Sammlung bestens kennt, reiht sich diese Neuerwerbung nahtlos ein: „Regine Thiess setzt sich immer intensiv mit aktuellen Tendenzen auseinander und sucht Positionen, die erst einmal verwirrend, schwer zu begreifen und unbequem scheinen, aber nach einer Weile ihre Relevanz im gesellschaftlichen Diskurs erkennbar werden lassen.“

Das Sammler-Gen hat Regine Thiess anscheinend geerbt. Ihre Eltern Ute und Rudolph Scharpff umgaben sich in den 1960er-Jahren mit der Kunst ihrer Zeit. Werke von Yves Klein und Lucio Fontana, Andy Warhol und Jeff Koons, die heute zur Stiftung Scharpff gehören, waren Teil ihrer Kindheit. „Aber ich wollte meinen eigenen Weg gehen und mich mit frischen Positionen der Gegenwart auseinandersetzen“, so die 1961 geborene Mutter von drei Kindern.
Seit mehr als 30 Jahren ist sie auf der Suche nach neuen Stimmen in der Kunstwelt und viele Jahre engagiert sie sich als Mitglied von PIN.Freunde der Pinakothek der Moderne. Sie reist auf jede Art Basel, besucht Galerien von New York bis Berlin und viele Biennalen. Sie durchkämmt Auktionsangebote. Doch die einst fest eingeschworene Symbiose zwischen Galerist und Sammler ist brüchig geworden. Der Kunstmarkt ist heute ein Dschungel. Und Regine Thiess analysiert ihn genau. Sie beobachtet die Instagram-Accounts wichtiger Kritiker und Kuratoren, etwa von Jerry Saltz oder Marc Godfrey. Und sie hat die Newsletter führender Galerien abonniert.
„Durch das Internet ist der Markt noch einmal schneller und kommerzieller geworden, und der richtige Zeitpunkt des Erwerbs wird immer wichtiger“, erwähnt sie kritisch. Ein Werk von Avery Singer könne und wolle sie sich heute nicht mehr leisten. Die computergesteuerten Bilder der Amerikanerin gehen in die Millionen. „Als Sammlerin, die nicht über ein grenzenloses Budget verfügt, muss man sich heute sehr fokussieren und oft auch schnell sein.“ Regine Thiess finanziert ihre Kunstkäufe nicht durch Boni am Ende eines Managerjahres, sondern aus ihrem Privatvermögen.

Die starke Begehrlichkeit mancher Emerging Artists hat die Position des Sammlers verschoben. Heute bestimmt der Galerist aus einem Kreis von Anwärtern den Käufer für das Bild eines gefragten Künstlers. Regine Thiess kann sich glücklich schätzen. Sie hat als renommierte Sammlerin einen Stand in der Kunstszene, der sie zur Käuferin der sogenannten Front Row macht. Als ihr die Galerie Deborah Schamoni Anh Trầns abstrakt-gestisches Gemälde „Searching the sky for dreams (vertigo)“ anbot, sagte sie sofort zu. Die Sammlung wurde in Sekundenschnelle um ein Kunstwerk reicher.
Exzentrik als eine Komponente der Kreativität, als ein Gegenbild zu gesellschaftlichen Normen und als Version des Nonkonformismus – das ist das Thema der Ausstellung „Eccentric. Ästhetik der Freiheit“. Bis zum 27. April 2025 zeigt die Schau in der Pinakothek der Moderne unter anderem Werke von Salvador Dalí, Martin Kippenberger, Maurizio Cattelan, Jeff Koons und Pipilotti Rist. Tiefgang, der die Sinne beflügelt. www.pinakothek.de





