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Ausstellung in HannoverÜber den Umgang mit dem Schwein

Das Sprengel Museum Hannover untersucht das Verhältnis des Menschen zum grunzenden Nutztier. Da kriegt eine ganze Branche ihr Fett weg – in humorvoller Anklage.Frank Kurzhals 06.09.2023 - 16:51 Uhr Artikel anhören

Ein Mitglied der Schweinefamilie namens „Miliszka“, gezeichnet 2023 von der Comiczeichnerin Anna Haifisch. Anja Koch betreibt den Betrieb Fläminger Weideschweine und ist Halterin der porträtierten Tiere (Ausschnitt).

Foto: Anna Haifisch / Anja Koch

Hannover. In einem großen Kühlschrank mit Glastüre wie ihn Supermärkte nutzen, hat der in Belgien lebende Künstler Pierre Bismuth eine „Wurstwarenbuchhandlung“ installiert. Lyoner, grobe Mettwurst und vakuumierte Fleischstücke ruhen hier Seite an Seite mit Büchern, die sich kritisch mit der Fleischindustrie auseinandersetzen. Sie berühren sich, bedingen sich, haben aber dennoch nichts miteinander zu tun, eine Parallelgesellschaft als Parabel im Kühlraum.

Die „Wurstwarenbuchhandlung“ ist eines von vielen verblüffenden, provozierenden Kunstwerken in der Ausstellung „Schweinebewusstsein“. Erdacht und organisiert hat sie das Sprengel Museum in Hannover. Der Kontext liegt vor der Tür, in Niedersachsen ist die Schweineindustrie besonders stark.

Wir leben in sprachsensiblen Zeiten. Begriffe und Redewendungen stehen immer wieder auf dem Prüfstand, werden analysiert, kritisch hinterfragt, angepasst oder auch verboten. Und das aus gutem Grund, denn auch über Sprache nehmen wir unsere Umgebung wahr. Auch das gehört zum Kontext der nachdenklich stimmenden Schau.

Liebgewonnene Sprachklischees überdecken dabei immer wieder die Wirklichkeit, auch in den Künsten. Über Jahrzehnte galt die niederländische Kunst des 17. Jahrhunderts als ein „Goldenes Zeitalter“. Einäugig ausgeblendet wurde dabei, dass das nur die Perspektive der Niederländer war, die über ihre Kolonien zu Reichtum und Glaubensfreiheit kamen; für ihre Kolonien aber war es ein kunstfreies dunkles Jahrhundert.

Es kommt eben immer auf die Perspektive an. Seit 2019 hat das Historische Museum in Amsterdam den bis dahin erfolgreich etablierten und für Marketing bestens nutzbaren Begriff sogar ganz aus seinem Wortschatz gestrichen. Das goldene Zeitalter wurde nach heftigen Diskussionen in einem Handstreich abgeschafft.

Noch einen Schritt weiter Richtung geht jetzt das Sprengel Museum in Hannover. Hier werden zwar keine Begriffe gestrichen, dafür aber neue Begriffe erfunden, die unsere Wahrnehmung schärfen sollen. In der Ausstellung „Schweinebewusstsein“ geht es um das Verhältnis des Menschen zu seinem Nutztier Schwein.

„Große Wende. Frohe Zukunft“ setzt sich aus 100 Tintenstrahldrucken von Fotografien des Landwirts Anton Stettners zusammen. Die Soziologin und Künstlerin wählte Aufnahmen von landwirtschaftlich genutzten Flächen und überblendete diese mit den Namen Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften (LPG) (Ausschnitt).

Foto: Wenke Seemann, 2023

Dafür hat die Kuratorin Inka Schube die Wortkombination „Ocular Witness“, Zeugenschaft des Auges, erdacht. Dieses Begriffspaar existiert im Englischen zwar nicht. Es könnte aber, wie das „denglische“ Wort Handy, noch eine steile Karriere als charmanter Pseudo-Fachbegriff vor sich haben. Das Sprengel Museum wird zum Seminarraum, zur Diskussion-Plattform. Es zeigt, wie unsere Wahrnehmung über Begriffe gelenkt werden kann.

Die Ausstellungsmacherin vertritt die Ansicht, dass auch die Zeugenschaft („Witness“) von „Aufzeichnungs- und Wiedergabesystemen“, also von Kunst, im großen Kontext zu betrachten sei. „Auch Ausstellungshäuser sind auf Gelder angewiesen, die auf Märkten erwirtschaftet werden, deren ethische Standards selten transparent sind“, argumentiert Schube.

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Diese wenig goldene Perspektive wird meist ausgeblendet wie überhaupt der Themenkomplex Geld und Gesellschaft im Museum bestenfalls verhalten diskutiert wird. Damit ihre Ausstellung nicht den gleichen Weg geht, zeigt sie ein „vielstimmiges, multiperspektivisches, die Mittel der Kunst nutzendes Recherche- und Ausstellungsprojekt“. Und das hat es in sich. Kritische Spitzen, lakonische Kommentare, grimmige Betrachtungen, alle möglichen kritischen Haltungen sind in der Ausstellung vertreten.

Inka Schube ist, wie sie selber sagt, in einem „Schweineort“ aufgewachsen. Das brachte sie in der Corona-Zeit auf die Idee der Ausstellung. Aber was verbindet Mensch und Schwein? Beide sind in zwei Kreisläufe eingebunden: den Geldkreislauf und den organischen Kreislauf des Lebens, der sich zwischen Geburt, Atmen, Essen und Ausscheiden unaufhörlich dreht. Das Thema der Ausstellung war geboren.

Anstoß für das Video des Künstlerpaars war der Rückgang deutscher Schweinefleischimporte in Korea. Den Hintergrund liefern aktuelle Tierwohldebatten und Tizians Gemälde über die Schindung des Marsyas.

Foto: Young-Hae Chang und Marc Voge

Eingeladen hat Inka Schube zu dem Projekt 16 Künstlerinnen und Künstler. Und die haben meist Überraschendes geliefert. So hat der Fotograf Arne Schmitt zwar Schweinemastställe fotografiert, aber die Großanlagen sind aus der Ferne porträtiert, als unscheinbare vielleicht auch eigenartig einsame Architekturen. Kein Schwein welcher Art auch immer in Sicht.

Dafür bietet die Comiczeichnerin Anna Haifisch gleich eine ganze Schweinefamilie im Großformat. Kuno der Schreckliche oder Roswita, deren Mutter ermordet wurde und die deswegen ihr Leben als Halbwaise fristet, denken und fühlen wie Menschen, oder ist es umgekehrt?

Die Perspektiven verkehren sich unmerklich. Und auf die Spitze treibt es Pierre Bismuth mit einer dekorativen Tapete. Ihr Rapportmuster spiegelt eine verkehrte Welt. Zwei Schafe aus einem Cartoon von Donald Reilly, entnommen der Zeitschrift New Yorker, diskutieren auf schweinchenrosa Grund, ob „die Idee, Menschen zu klonen“ nicht ekelhaft sei.

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Ganz anders ist die Perspektive der in Berlin lebende Soziologin und Künstlerin Wenke Seemann auf das Thema Mensch und Schwein. Sie hat zwei „Specki-Tonnen“ aus alten DDR-Beständen für die Ausstellung zu einer Skulptur werden lassen. In den Tonnen wurden ehedem Lebensmittelreste gesammelt, die dann als Schweinefutter genutzt wurden. Beide Tonnen hat sie für die Ausstellung mit einem Gummitwist-Band verbunden. Unbesorgte Kindheit und Fleischindustrie zelebrieren in ihrem Werk eine bittersüße Zwangsgemeinschaft mit Hinterhofappeal.

Geldkreislauf und Menschenschicksal sind auch in dem Video von Anetta Mona Chisa und Lucia Tkáčová auf unglückliche Weise miteinander vermählt. Hingeblättert werden langsam und in Großaufnahme Fünf-Euro-Scheine. Und auf jedem Schein stehen Sätze oder Begriffe, die von Gastarbeiter-Schicksalen berichten. Deren in der Ferne verdientes mageres Geld fließt zurück an ihre Familien.

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Der Spruch, dass Geld nicht stinkt, trifft hier nicht zu, die Leidensgeschichte von Mensch und Tier ist den Geldscheinen sichtbar eingeschrieben. Auch das ist eine Form von „Ocular Witness“.

„Ocular Witness: Schweinebewusstsein“, bis 5. November 2023. Katalog, 198 Seiten, 22 Euro. www.schweinebewusstsein.de

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