Buchtipp Warum jeder Taktiken zum digitalen Detox braucht

„Viele Taktiken der Entnetzung sind Ausdruck einer Sehnsucht nach produktiver Ablenkung“, sagt Guido Zurstiege.
(Foto: Hugo Barbosa on Unsplash)
Hamburg Nicht jetzt. Weder senden, noch empfangen. Kein always on, keine Parallelwelten, keine affektgesteuerten Zwitschergefechte. Statt dessen: digitale Ignoranz. Das Netz-Leben an sich vorbeiziehen lassen, sich mit sich beschäftigen, echten Austausch und wahre Freundschaft pflegen – und JOMO, Joy of missing out.
Sei es als Reaktion auf den vermeintlichen Zwang zur permanenten Perfomance in den sozialen Medien oder aus Verdruss über die diskursiven Defekte, aus Angst vor Überwachung oder als Versuch, das entgleiste Nutzungsverhalten wieder zu kontrollieren:
„An fast jeder Stelle im Mediensystem lassen sich gegenwärtig nicht nur Phänomene der gesteigerten Kommunikation und Konnektivität beobachten, sondern auch des Rückzugs und Verzichts – als Symptom einer Gesellschaft, deren Lärm für viele nicht mehr anders auszuhalten ist als durch selbstverordnete Sendepause“, befindet Guido Zurstiege in seinem aktuellen Buch „Taktiken der Entnetzung. Die Sehnsucht nach Stille im digitalen Zeitalter“.
Aus Tübingen, dem intellektuellen „Zentrum für Weltabgeschiedenheit“, schickt der Professor für Medienwissenschaft ein Plädoyer auf das Recht der Nichterreichbarkeit beziehungsweise auf Nichtnutzung spezifischer Medien – jedenfalls immer mal wieder.
Und das nicht nur, weil kaum ein Tag ohne Geschehnisse und Nachrichten vergeht, die wahlweise beschämen, fassungslos oder zutiefst traurig stimmen. Oder weil das Ausmaß an Trash und Hass inzwischen Dimensionen annimmt, die immer öfter sprachlos machen. „Mein Wunsch informiert zu sein, kollidiert derzeit mit dem Wunsch, nicht den Verstand zu verlieren“, sagt eine Frau in einem Cartoon im „New Yorker“.
Sondern auch, weil die Big Five, Six oder Seven der digitalen Guerilla – Amazon, Apple, Google und Co. – angetreten sind, ihre Verwender fest in den personenbezogenen Datengriff zu nehmen, in dem zur vollen Entfaltung kommt, was die amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff als Überwachungskapitalismus bezeichnet: Der digitale Datenhandel entspricht dem Handel mit kostbaren Rohstoffen, weil er ein Milliardengeschäft ist.
Das Gefühl der digitalen Bemächtigung
Auf knapp 250 Seiten möchte der Forscher, zu dessen zentralen Feldern die Werbung zählt, die Facetten des daraus resultierenden gesellschaftlichen Rumorens und weiter anschwellenden Unbehagens dokumentieren – bis hin zum Gefühl der digitalen Bemächtigung, da Leben heute nicht mehr nur mit „den Medien“ stattfindet, sondern umfassend auch in ihnen.
Woher rührt diese Faszination? Warum leiden die Menschen am Getöse der Zeit und produzieren es doch zugleich mit so viel Hingabe? Wollen sie tatsächlich so abhängig sein von den Flaggschiff-Plattformen – den „Großgrundbesitzern eines digitalen Feudalismus“? Wie kann in deren ständiger Gesellschaft ein gutes Leben gelingen? Um Fragen wie diese kreist der Autor im Sinne der einen Seite der Medaille, der ständigen Sicht- und Erreichbarkeit.

Guido Zurstiege: Taktiken der Entnetzung. Die Sehnsucht nach Stille im digitalen Zeitalter.
Edition Suhrkamp
297 Seiten
18 Euro
ISBN: 978-3-518-12745-2
Die andere Seite ist ein Bündel von Verweigerungstaktiken. Dafür hat er im Sommer 2018 Feldforschung in einem Freisemester betrieben, bei sich und allerlei Menschen im engen und weiteren Umfeld. Hat dauerscrollende Muttis auf Spielplätzen beobachtet, Eltern, Kollegen und Studentinnen befragt und eine Bestandsaufnahme erstellt, die er als „autoethnografisches Abenteuer“ bezeichnet. Ohne repräsentativen Anspruch, geht ja auch gar nicht.
Er führt Denkanstöße zusammen von „High-Techies“, die irgendwann ihr Gewissen entdeckten – die ihren beruflichen Erfolg ausgerechnet jenen Technologien verdanken, dessen Verzicht sie nun öffentlich propagieren. Und nennt sie „Apostel der Entnetzung“, Bill Gates zum Beispiel oder Sean Parker, Ex-Berater bei Facebook oder Jaron Lanier, einer der wichtigsten Vordenker der virtuellen Realität.
Daraus webt der Wissenschaftler ein feines Netz von Distanzzonen für fast alle – die Süchtigen brauchen was anderes – und für jedes Motiv. Es reicht von mehr oder minder kurzfristigen Offline-Zeiten (Sabbat-Manifest) über Medienbildung (gezielt nutzen und Verhalten anpassen!) und das Formulieren eigener Regeln (erst lernen, dann zocken) bis zur digitalen Selbstverteidigung (sichere Browser mit zusätzlichen Add-ons) und schließlich kompromisslosen Abkopplung von jeglicher technologischen Entwicklung.
Wer sich darauf einlässt, braucht vor allem eins: die Fähigkeit zur Selbstregulierung im Sinne einer vorbeugenden Selbstfürsorge. Die hält Zurstiege für eine der wichtigsten Bedingungen zum Thema Selbstbehauptung und -bestimmung. Denn solange es kein verbindliches Regelwerk gibt, muss jeder sich schützen – und gegebenenfalls andere, die eigenen Kinder beispielsweise.
„Wer sich heute gänzlich ungetrübt den Freuden der voranschreitenden Digitalisierung hingibt, wirkt wie aus der Zeit gefallen“, heißt es. Und: Mediennutzer sind zu keiner Zeit nur wehrlose Opfer einer übermächtigen Industrie oder finsterer Typen.
Entsprechend verhält sich taktisch, wer sich zwar auf fremdem Territorium befindet, aber dennoch eigensinnig ist. Wer einen eigenen Weg geht und sich damit gegenüber einer vermeintlich umfassend herrschenden Ordnung erfolgreich selbst behauptet. Ob zum eigenen Weg auch das Netz als Plattform zum Geldverdienen gehört, bleibt offen.
Die Stille als heilsamer Wert
Letztlich jedoch will der Autor den Blick auf ein Thema lenken, das tief in der asiatischen Kultur verankert ist und seit einigen Jahren auch bei uns als heilsamer Wert geschätzt wird: die Stille. Kommunikative Enthaltsamkeit als Resonanzraum für große, kleine oder gar keine Gedanken ist mehr als je zuvor eine relevante Kategorie, lautet eine These des Buches. Eine andere: Viele Taktiken der Entnetzung sind Ausdruck einer Sehnsucht nach Entschleunigung in einer Zeit, die hetzt und treibt.
Neue Erkenntnisse sind das nicht, auch keine aktuellen. Die „Lücken zwischen den Wörtern“ fürs Nach- und Vordenken, Abschalten und Verarbeiten werden seit jeher ebenso von der Philosophie oder Zeitforschung besetzt. Aber ja: Wo es ernst wird, wird es still, weiß der Soziologe Niklas Luhmann. Und wer still ist, kann auf tiefere Einsichten hoffen.
Damit beantwortet sich eine weitere Frage „Ist still zu sein überhaupt noch sozial akzeptabel?“ von selbst. Und Zurstiege kann den Bogen zum Drosseln des allgemeinen Tempos schlagen – zum Innehalten, langsamer werden, zur Muße. „Viele Taktiken der Entnetzung sind Ausdruck einer Sehnsucht nach produktiver Ablenkung, nach glücklichen Funden am Rand des Weges. Es ist gut, so durchs Leben zu gehen.“
Slow, Flow, Glück sozusagen – auch als Ergebnis einer bewussten Form der Mediennutzung, nicht einer vollkommene Abstinenz.
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