Schiffsunglücke im Mittelmeer: Eine Million Flüchtlinge warten in Libyen

Immer neue Flüchtlingsunglücke auf dem Mittelmeer erschüttern Europa.
Athen/Genf. Im Mittelmeer sind drei weitere Schiffe mit Flüchtlingen in Seenot geraten. Italien und Malta hätten nach Hilferufen der drei Boote Rettungseinsätze eingeleitet, sagte Italiens Regierungschef Matteo Renzi am Montag nach einem Treffen mit Maltas Premierminister Joseph Muscat. „Ein Schlauchboot befindet sich etwa 30 Seemeilen (55 Kilometer) vor Libyen, mit 100 bis 150 Menschen an Bord. Ein weiteres Schiff ist etwas größer mit 300 Menschen“, sagte Renzi. Auch ein drittes Boot habe um Hilfe gebeten.
Zuvor hatte die Internationale Organisation für Migration (IOM) erklärt, sie habe Informationen über drei weitere Schiffe in Seenot erhalten. Dies habe ein Anrufer, der sich angeblich auf einem der Boote befand, berichtet, sagte ein IOM-Sprecher der Nachrichtenagentur dpa. Auf einem Schiff, das am Sinken sei, befänden sich nach Angaben des Anrufers 300 Menschen, 20 von ihnen seien gestorben.
Der Hilferuf ging im IOM-Büro in Rom ein. Den Angaben des Anrufers zufolge waren drei Schiffe dicht beieinander vor der libyschen Küste unterwegs, er sitze in einem von ihnen. Die genaue Position konnte jedoch zunächst nicht bestimmt werden. Die IOM alarmierte die Küstenwache. Doch wegen der Tragödie vom Sonntag mit je nach Angaben rund 700 oder 900 Toten fehlten der Küstenwache derzeit die Mittel, nach dem anderen Schiff zu suchen, teilte die IOM weiter mit.
„Die Küstenwache wird vermutlich Handelsschiffe zu dem kenternden Boot schicken“, hieß es bei der IOM. Allerdings weigerten sich einige kommerzielle Schiffe, bei der Rettung zu helfen.
Renzi bekräftigte, es sei wichtig, gegen die Menschenschmugglerbanden im Mittelmeerraum vorzugehen. „Die Eskalation der Todesfahrten ist ein Zeichen, dass es eine kriminelle Organisation gibt, die viel Geld damit verdient und viele Leben ruiniert“, sagte der 40-Jährige nach dem Treffen in Rom. „Unser Land kann nicht zulassen, dass mit menschlichen Leben Geld gemacht wird, und wir werden dagegen vorgehen. Das verlangen wir von der internationalen Gemeinschaft.“
Vor einem beliebten Strand der griechischen Touristeninsel Rhodos ist unterdessen ein Schiff mit Dutzenden Flüchtlingen an Felsen zerschellt. Mindestens drei Menschen starben, darunter ein vierjähriges Kind, wie die Küstenwache am Montag mitteilte. Weitere 93 wurden demnach aus dem Wasser gerettet, 30 von ihnen kamen ins Krankenhaus. Taucher entdeckten im Wrack keine weiteren Menschen, wie es hieß.
Nach ersten Erkenntnissen der Küstenwache kam das Schiff offenbar aus der Türkei. Das Boot lief rund 100 Meter vor dem beliebten Badestrand Zefyros der Stadt Rhodos auf Felsen auf und zerschellte. Augenzeugen gaben an, die Flüchtlinge klammerten sich an Teile des Schiffes, um auf diesen die Küste zu erreichen. Medienberichten zufolge beteiligten sich auch Inselbewohner an der Rettung.
Über die Nationalität der Menschen wurde zunächst offiziell nichts bekannt. Augenzeugen sagten im örtlichen Rundfunksender, viele von ihnen seien aus Syrien. Es seien aber auch Menschen aus Eritrea und Somalia unter den Flüchtlingen.
Die Zahl der Immigranten, die übers Meer nach Griechenland kommen, ist in den vergangenen zehn Tagen stark angestiegen. Viele von ihnen starten ihre gefährliche Überfahrt auf kaum seetüchtigen Gefährten von der türkischen Küste aus. Allein auf der nahe gelegenen Insel Lesbos kamen vergangene Woche mehr als 700 Flüchtlinge an.
In der Nacht zum Sonntag waren beim Untergang eines Flüchtlingsbootes vor der Küste Libyens nach Berichten Überlebender bis zu 950 Menschen ertrunken. Es war die bisher vermutlich schlimmste Katastrophe im Mittelmeer. In Luxemburg kamen am Montagvormittag die EU-Außenminister zusammen, am Nachmittag soll ein gemeinsames Krisentreffen mit den Innenministern folgen. Allein in diesem Jahr sind etwa 1500 Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa ums Leben gekommen.
In Libyen warten nach Angaben von Bundesinnenminister Thomas de Maiziere rund eine Million Flüchtlinge auf die Überfahrt über das Mittelmeer in die EU. Diese Zahl nannte der CDU-Politiker am Montag nach Angaben mehrerer Teilnehmer in der CDU-Bundesvorstandssitzung in Berlin. De Maziere habe zudem von einer immer professionelleren Organisation der Schlepperbanden berichtet, die die Flüchtlinge teilweise sogar per App an die Küste und zu den Booten leiteten.
„Es handelt sich um eine echte Völkerwanderung“, sagte der CDU-Europapolitiker Elmar Brok der Nachrichtenagentur Reuters. Die Rettung der Flüchtlinge aus dem Mittelmeer sei wichtig, werde alleine aber nicht helfen. „Wenn wir nur viel mehr Schiffe einsetzen, werden in Libyen bald zwei Millionen Menschen warten.“
Wichtig sei, Außen-, Innen- und Entwicklungshilfe zu kombinieren. Die EU-Staaten müssten in den Herkunftsländern ansetzen. „Denn es berichtet doch etwa niemand darüber, dass in der Sahara wohl noch mehr Menschen sterben als im Mittelmeer“, sagte Brok mit Blick darauf, dass die Schlepperbanden den Fluchtweg von Menschen aus Schwarzafrika nach Norden zunächst durch die Wüste organisierten.

Bei dem Flüchtlingsunglück am Montag sind vor der griechischen Insel mindestens drei Menschen ums Leben gekommen.
Die EU-Kommission drängt nach dem Flüchtlingsunglück vom Sonntag die EU-Staaten zum Handeln. „EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker glaubt, dass es keine Option ist, den Status quo aufrechtzuerhalten“, sagte ein Kommissionssprecher in Brüssel. „Es ist Zeit für eine gemeinsame Aktion, eine gemeinsame Antwort.“
Die EU-Kommission werde ihr angekündigtes Strategiepapier zur Migrationspolitik von Juni auf Mitte Mai vorziehen. Zum Inhalt machte der Sprecher keine Angaben. Juncker habe das Thema Einwanderung zu einem der Topthemen seiner Amtszeit erklärt. Bei einem Treffen von Vertretern der EU und der Afrikanischen Union soll am Mittwoch in Brüssel auch über Migration gesprochen werden.
Angesichts der neuesten Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer hält der Direktor des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), Klaus Zimmermann, eine Neuausrichtung der deutschen und europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik für dringend geboten. „Die nicht endenden humanitären Katastrophen im Mittelmeer sind eine Blamage und Schande für ganz Europa“, sagte Zimmermann dem Handelsblatt.
Da eine weitere Verschärfung der Gesamtsituation drohe, muss die Situation endlich als Gesamtproblem der Europäischen Union angesehen werden, sagte Zimmermann weiter. „Das bedeutet: Die Rettung von Boatpeople kann nicht allein der italienischen Marine überlassen werden, sondern auch andere Länder müssen sich engagieren.“
Eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge kann aus Zimmermanns Sicht durch feste Quoten zwischen den europäischen Ländern erreicht werden, die sich beispielsweise an der Bevölkerungsgröße und Wirtschaftskraft orientieren. „Ein Versteckspiel einzelner Länder ist dann unmöglich.“
Der EU empfiehlt Zimmermann mit den Ursprungsländern Abkommen über „zirkuläre temporäre Arbeitsmigrationen“ zu schließen, um eine humane Alternative zur Flüchtlingsthematik zu bieten. Das Gebot der Stunde sei, auch Flüchtlinge und Asylsuchende frühzeitig in den Arbeitsmarkt zu integrieren. „Denn auch sie können dazu beitragen, die „Demokalypse“ in Europa zu vermeiden.“
Die IOM fordert nach der jüngsten Unglücksserie die sofortige Wiederaufnahme der Mission „Mare Nostrum“ zur Rettung von Flüchtlingen auf See. „Mare Nostrum“ müsse wieder in den Einsatz und mit der nötigen Unterstützung versehen werden, sagte IOM-Chef William Lacy Swing am Montag der Nachrichtenagentur AFP am Rande einer Konferenz in der indonesischen Hauptstadt Jakarta.
Swing wies darauf hin, dass „Mare Nostrum“ zwischen Oktober 2013 und Dezember vergangenen Jahres rund 200 000 Menschen gerettet habe. Italiens Marine hatte die Mission gestartet, nachdem Ende 2013 vor der italienischen Insel Lampedusa mehr als 400 Flüchtlinge ertrunken waren. Der Einsatz, für den Italien pro Monat neun Millionen Euro aufbrachte, wurde im Oktober 2014 aus Kostengründen gestoppt.
Im vergangenen Oktober begann die europäische Grenzschutzagentur Frontex ihren eigenen Einsatz: Die mit drei Millionen Euro monatlich ausgestattete Operation „Triton“. Der Fokus der Operation liegt jedoch auf der Sicherung der EU-Außengrenzen und nicht primär auf der Rettung von Flüchtlingen aus Seenot.
Frontex-Vize Gil Arias forderte, „neue Möglichkeiten für legale Einwanderung, insbesondere für Kriegsflüchtlinge“ zu schaffen. Im spanischen Radiosender Cadena SER sagte Arias, es sei unmöglich das ganze Mittelmeer lückenlos zu überwachen. „Die Lösung ist eine stärkere Kooperation mit den Herkunfts- und Transitländern und Lösungen für die Instabilität in diesen Ländern zu finden.“ Hier sei die internationale Diplomatie gefordert.





Die Bundesregierung schließt eine neue Seenotrettungsmission der EU nicht mehr aus. „Es ist allen in der Bundesregierung klar, dass gehandelt werden muss, um weitere massenhafte Tode im Mittelmeer zu verhindern“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert.
Wenn ein neuer Rettungseinsatz nach Art von Mare Nostrum „ein weiterer Baustein in einem Maßnahmenpaket“ wäre, „dann würde sich die Bundesregierung dem möglicherweise nicht verschließen“, sagte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums. Er fügte allerdings hinzu, auch eine solche Mission wäre „kein Allheilmittel“. Seibert sprach von einer notwendigen Kombination aus der Rettung von Menschenleben, dem Kampf gegen Schlepperbanden und der Schaffung von Perspektiven für die Menschen in den Herkunfts- und Transitländern.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sei „wie Millionen Deutsche erschüttert über das neuerliche Kentern eines Flüchtlingsschiffes“, sagte Seibert. „Das ist ein Zustand, der Europas nicht würdig ist.“ Seibert sprach von einer Tragödie, auf die Europa Antworten suchen müsse. Dabei müsse die Frage im Vordergrund stehen: „Was können, was müssen wir unternehmen, damit sich solche Katastrophen nicht wiederholen.“





