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GastbeitragKosovo könnte Deutschlands Demographie-Problem lösen

In Kosovo lebt die jüngste Bevölkerung Europas, die Geburtenrate ist hoch, die Arbeitslosigkeit auch. Deutschland und die EU könnten von dem Bevölkerungswachstum profitieren. Dazu braucht es eine geregelte Einwanderung. 14.02.2015 - 13:47 Uhr Artikel anhören

Junge Menschen aus Kosovo, die die serbisch-ungarische Grenze überquert haben.

Foto: Reuters

Um die Massenflucht der Kosovo-Albaner nach Westeuropa verstehen zu können, muss man sich die tragische soziale Situation vor Ort vor Augen führen. Nach Angaben der Vereinten Nationen leben etwa 17 Prozent der Bevölkerung in extremer Armut (Ausgaben von weniger als 0,94 Euro pro Tag) und 45 Prozent in absoluter Armut (weniger als 1,42 Euro pro Tag). Etwa 16 Prozent der Kinder sind von Nahrungsmangel und dadurch verursachten Wachstumsstörungen betroffen. Aufgrund von Mangelernährung leiden etwa 16 Prozent der Schulkinder und 23 Prozent der Schwangeren unter leichter Anämie.

Die Säuglings-, Kinder- und Müttersterblichkeit ist weiterhin erheblich höher als in den umliegenden Regionen und in Europa. Die Weltbank schätzte zuletzt, dass mehr als 35 Prozent aller Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 24 weder eine Bildungseinrichtung besuchen noch einer Ausbildung oder Beschäftigung nachgehen. Die Arbeitslosigkeit wird auf über 40 Prozent, bei Jugendlichen auf über 70 Prozent geschätzt.

Dušan Reljić forscht an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) u.a. zu aktuellen Entwicklungen im Westbalkan.

Foto: Handelsblatt

Kosovo leidet zum einen noch immer unter der historischen Unterentwicklung aus der osmanischen Zeit und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber auch unter den Folgen der ökonomischen Marginalisierung unter dem Milošević-Regime (1987 bis 2000). Zum anderen hält ein überdurchschnittliches Bevölkerungswachstum an, mit dem die Wirtschaftsentwicklung nicht mithalten kann. Die natürliche Bevölkerungszuwachsrate lag im Jahr 2012 laut Europäischer Kommission bei 11,3 Personen pro 1.000 Einwohner – und damit viel höher als irgendwo sonst in Europa. Kosovo hat die jüngste Bevölkerung auf dem Kontinent, eine Tatsache, die mit für die hohe Geburtenrate verantwortlich ist. 30.000 Neugeborene pro Jahr: so viele Arbeitsplätze können in einem Land, das nur knapp ein Drittel der Fläche Belgiens ausmacht, nicht entstehen.

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Um die Zahl der Armen bis 2020 zu halbieren, wären nach Schätzungen der internationalen Finanzinstitute ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes von jährlich über sieben Prozent und Direktinvestitionen aus dem Ausland in Höhe von 1,5 Milliarden Euro pro Jahr erforderlich. Tatsächlich weist Kosovo derzeit nur ein Wirtschaftswachstum von 2,5 Prozent (2014) auf, Investitionen aus dem Ausland gibt es kaum.

Für das Verharren Kosovos in Armut sind auch ausgedehnte rechtsfreie Räume mitverantwortlich. Sie sind Folge der allgegenwärtigen Korruption und der symbiotischen Beziehung zwischen weiten Teilen von Verwaltung und Politik mit der organisierten Kriminalität. Trotz aller seit 1999 in Angriff genommener Reformen unter Leitung von EU, OSZE und zahlreicher internationaler Nichtregierungsorganisationen ist die öffentliche Verwaltung in Kosovo weiterhin leistungsschwach.

Beamte stehen unter permanentem politischen Druck und sind oft an Korruption und Nepotismus beteiligt. Nach allen Befragungen geht die Zufriedenheit der Bevölkerung mit den politischen Institutionen, einschließlich des Parlaments und der Regierung sowie der Justiz und der Verwaltung, nach einer euphorischen Phase im Zuge der Ausrufung der Unabhängigkeit 2008 zurück. Als am meisten korrupt werden Polizei, Zollbehörden und Gerichte wahrgenommen.

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Anfang 2013 hatte der Europarat die Behörden Kosovos sowie die Missionen von EU und Uno für das Land, EULEX und UNMIK, aufgerufen, endlich der „Kultur der Straflosigkeit, oft gefördert durch Mitglieder der Regierung“ Einhalt zu gebieten. Der Europäische Rechnungshof hat zuletzt Mitte 2012 die Arbeit der EULEX als „nicht effizient genug“ gerügt und festgestellt, dass den Maßnahmen der EU in Kosovo zur Bekämpfung der Korruption und der organisierten Kriminalität bisher wenig Erfolg beschieden war.

Ein Beschäftigungspakt mit den EU-Ländern könnte den entscheidenden Rahmen schaffen, um Kosovo eine realistische Entwicklungsperspektive zu eröffnen. Angesichts der Abnahme der arbeitsfähigen Bevölkerung in der EU wäre die geregelte Anwerbung neuer Arbeitskräfte in Südosteuropa von beiderseitigem Interesse. Ein solcher Pakt müsste eine von der EU mitfinanzierte und beaufsichtigte Reform des Berufsbildungswesens wie auch Instrumente zur geregelten Arbeitsmigration beinhalten. Es müsste dafür Sorge getragen werden, dass jungen Menschen künftig Wissen und Fähigkeiten vermittelt werden, die zu Hause wie auch im Ausland Chancen auf dem Arbeitsmarkt bieten. Nur so kann vermieden werden, dass Schulabgänger in die Arbeitslosigkeit entlassen werden oder potenzielle Arbeitsmigranten im Niedriglohnsektor der Aufnahmeländer landen.

Da nicht zu erwarten ist, dass sich die wirtschaftliche Entwicklung in absehbarer Zeit beschleunigt, ist die Auswanderung, insbesondere für junge Menschen, die einzige realistische Chance, eine selbstbestimmte Existenz aufzubauen und aus den Einschränkungen traditioneller Familienstrukturen und der Sogwirkung der organisierten Kriminalität zu entkommen. Schon jetzt sind die Überweisungen der Arbeitsmigranten mit etwa 600 Millionen Euro jährlich die wesentliche finanzielle Antriebskraft der Wirtschaft in Kosovo; die Zunahme der Arbeitsmigration dürfte die Wirtschaft durch zusätzliche Finanztransfers weiter beleben.

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Die Anhebung des Lebensstandards in Kosovo würde in einem gewissen Ausmaß auch zur Immunisierung gegen den grassierenden Nationalismus beitragen, so dass moderate politische Kräfte sich besser entfalten könnten, die in der Lage sind, die Annäherung an die EU voranzubringen: durch die Stärkung von Rechtsstaatlichkeit und demokratischer politischer Kultur und durch die Stabilisierung der Wirtschaft. Je realistischer die EU-Beitrittsperspektive ist, desto weniger Anreize gibt es, ethnische Konflikte weiter anzuheizen und desto konsequenter müssen die von der EU verlangten Reformen weitergeführt werden. Ein Beschäftigungspakt wäre ein erster Schritt auf einem langen Weg.

Dušan Reljić forscht an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) u.a. zu aktuellen Entwicklungen im Westbalkan. Er leitet das Brüsseler Büro der SWP. Die Stiftung berät Bundestag und Bundesregierung in allen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. Der Artikel erscheint auf der SWP-Homepage in der Rubrik „Kurz gesagt“.

Dušan Reljić
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