Gastkommentar: Den Nahost-Konflikt vom Ende her denken: Lehren aus der deutschen Geschichte

Ein Bombenangriff auf den Gazastreifen.
Der Satz, der nach der Terrorattacke der Hamas auf Israel am 7. Oktober bei mir den tiefsten Eindruck hinterließ, kam vom Kolumnisten des Magazins „Tablet“, James Kirchick: „Wenn die Araber die Waffen niederlegen, gibt es Frieden im Nahen Osten; wenn Israel die Waffen niederlegt, gibt es keine Juden mehr im Nahen Osten.“
Es lohnt sich, diesen Satz sacken zu lassen, denn er gibt sowohl moralische Orientierung als auch einen Kompass, wie wir handeln und reden sollten.
Ausgerechnet die multinational eingestellten (Pseudo-)Intellektuellen und Linken befeuern mit ihrer Rhetorik und Haltung auch 75 Jahre nach der Gründung Israels durch die UN den Nahostkonflikt. Die Uno hatte sich die Frage damals nicht einfach gemacht und bei postkolonialen Staatengründungen gibt es ohnehin keine perfekten Antworten.
Aber obwohl bei diesem Beschluss im Jahr 1947, in einem bereits frostig werdenden Kalten Krieg, die Sowjets und die USA noch einmal zusammenkamen, lassen wir zu, dass dieser permanent infrage gestellt wird und sich der Nahost-Konflikt so ständig perpetuiert.
Wie wäre es, wenn wir aus unserer eigenen Geschichte lernen? Deutschland ist für unvergleichliche Verbrechen und den fürchterlichsten europäischen Angriffskrieg verantwortlich. Es hat aber im Anschluss eine einzigartige Kultur- und Friedensleistung erbracht, nämlich nach außen einen Schlussstrich unter die Geschichte zu ziehen und alle Energie auf eine zukünftige Friedensarchitektur zu konzentrieren.
Streng genommen waren die Bomben der Alliierten auf deutsche Städte ein Kriegsverbrechen. Und wenn sie auch nicht ohne historischen Kontext fielen, so waren sie doch den Einzelnen gegenüber hochgradig ungerecht, denn sie machten keinen Unterschied, ob sie auf aktive Nazis oder SPD-Mitglieder fielen. Auch die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ein Bruch des Völkerrechts. Ohne deutschen Angriffskrieg hätte es sie aber nicht gegeben.

Anzuerkennen, dass die Opferrolle der Deutschen definitiv nicht das entscheidende Narrativ nach dem Zweiten Weltkrieg sein konnte und dass es keinen dauerhaften Frieden in Europa ohne die Anerkennung des Status quo geben könnte, war eine Einsicht, die historisch ihresgleichen sucht. Nur deshalb ist es heute weitestgehend egal, ob das Elsass deutsch oder französisch ist.
Die deutschen Vertriebenenverbände waren in diesem Prozess der Sand im Getriebe, aber spätestens in den 90ern wirkten sie wie Ewiggestrige. Ich erinnere mich an eine Folge von Dieter Hildebrandts Kabarettsendung „Scheibenwischer“, in der er sich über die Vertriebenen der dritten Generation lustig machte, die ihre verlorene Heimat in Schlesien und Ostpreußen selbst nie gesehen hatten.
Irgendwann brandmarkten die deutsche Zivilgesellschaft und die Medienöffentlichkeit – insbesondere die Anhänger von Willy Brandt – die Vertriebenenverbände als das, was sie mit der Zeit wurden: als Revanchisten und Revisionisten, die einem friedlichen Neuanfang in Europa im Wege standen.
>> Lesen Sie auch: Die gemeinsame EU-Außenpolitik steht vor einem Trümmerhaufen
Die gleiche Konsequenz geht uns und insbesondere der sogenannten progressiven Zivilgesellschaft mit Blick auf die Palästinenser völlig ab. Weder die Bombardierung der Hamas, die sich hinter Zivilisten und unter Krankenhäusern versteckt, noch der Siedlungsbau im Westjordanland geschehen im luftleeren Raum.
Die arabischen Nachbarn griffen Israel in der Nacht der Staatsgründung an. Ja, es wurden daraufhin viele Palästinenser vertrieben, aber die meisten hatten sich den arabischen Angreifern angeschlossen. Israel überstand zwei weitere Angriffskriege einer arabischen Übermacht. Und ja, Israel hat im Anschluss daran Gebiete als Sicherheitspuffer besetzt, aber diese gegen Frieden – wie im Falle der Sinai-Halbinsel an Ägypten – eingetauscht.
Konflikte durch „Rückwärtsinduktion lösen“
Israel hat in den 90ern einer Zweistaatenlösung zugestimmt, in der die Palästinenser gut 95 Prozent der geforderten Gebiete bekommen hätten und für die Premierminister Rabin mit dem Leben bezahlte. Israel hat die Siedlungen im Gazastreifen Anfang der 2000er geräumt und das Gebiet komplett an die Palästinenser übergeben.
Niemand hielt diese davon ab, mit all den internationalen Hilfen daraus das Hongkong des Mittelmeers zu machen. Stattdessen wählte man die Terrororganisation Hamas an die Macht, deren einzige Existenzberechtigung der Dauerkonflikt mit Israel ist.
Reinhard Selten, der einzige deutsche Nobelpreisträger der Ökonomie, hat viel zu „sequenziellen Spielen“, also Situationen – sei es in der Wirtschaft oder in Konflikten – geforscht, in denen die Akteure nicht zeitgleich handeln, sondern immer wieder aufeinander reagieren. Grob gesagt lassen sich solche Konstellationen nur „von hinten nach vorne“ durch sogenannte „Rückwärtsinduktion“ lösen.
Wendet man diese Logik auf den Nahost-Konflikt an, kommt man zu dem Ergebnis, dass jeder Ansatz, der die Opferrolle der Palästinenser und nicht die Anerkennung des Status quo ins Zentrum rückt, den Konflikt endlos befeuert oder zur Auslöschung Israels führt.
Geschichte ist ungerecht! Jeder Versuch, sie rückabzuwickeln, führt jedoch zu noch viel mehr Leid und Ungerechtigkeit. Solange wir den Resonanzboden für eine im Kern revisionistische Diskussion bieten, verlängern wir entweder das Leid der Palästinenser oder wir lassen irgendwann einen neuen Holocaust im Mittleren Osten zu. Die Anerkennung Israels muss nicht der Endpunkt, sondern der Startpunkt jeder Debatte mit arabischen Staaten sein.




Mit den inhaltsleeren Sprechblasen aus UN und EU, Israel müsse „verhältnismäßig reagieren“, kann ich nichts anfangen. Was ist eine verhältnismäßige Reaktion auf das Köpfen von Kindern? Ich verwehre mich, das bewusste Töten von israelischen Zivilisten gleichzusetzen mit den Opfern auf palästinensischer Seite, die als menschliche Schutzschilde missbraucht werden, nachdem sie von der israelischen Armee Minuten vor Raketenangriffen gewarnt werden, das jeweilige Haus zu verlassen.
Dennoch sollte Rückwärtsinduktion und damit die Frage, was ein militärischer Einsatz letztendlich bewirken kann – ob er die eigenen Opfer, die toten Zivilisten, den Propagandaerfolg der Hamas und das damit verbundene Befeuern des Dauernarrativs wert ist –, im Zentrum aller Überlegungen der Israelis stehen. Der Ex-Außerminister und -Stabschef der US-Streitkräfte, Colin Powell, meinte einmal zu Militäreinsätzen: „Gehe nicht rein, bevor du nicht weißt, wie du wieder rauskommst.“





