Gastkommentar: Der Weg zu mehr Energie-Autonomie

Nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und den zunehmenden Spannungen im Nahen Osten ist die Energiewende noch mehr als ohnehin schon zu einem geopolitischen Instrument und zu einer Sicherheitsfrage geworden. Für uns in Europa heißt das: Die Energieversorgung ist ein europäisches Thema, und sie gehört als solches ganz oben auf die Agenda.
Die EU braucht den Ausbau und die weitere Digitalisierung ihrer Stromnetze
Die Energiekrise hat gezeigt, dass erneuerbare Energien und Energieeffizienz eine wichtige Rolle bei der Erhöhung der Energiesicherheit spielen, weil sie die Abhängigkeit von importierten fossilen Brennstoffen schrittweise verringern. Für einen raschen Übergang sind kosteneffiziente Investitionen, Bürokratieabbau und eine koordinierte Verwaltung erforderlich. Gleichzeitig sind auch der Ausbau und die weitere Digitalisierung der Stromnetze von entscheidender Bedeutung, um das Tempo des Ausbaus erneuerbarer Energien in der Europäischen Union (EU) aufrechtzuerhalten.
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Im Gebäudebereich ist der Handlungsdruck besonders groß, da fossile Gase und Öl immer noch einen großen Anteil an der Beheizung von Wohngebäuden in Deutschland haben. Daher ist die Ausweitung der Nutzung von Wärmepumpen, einer hocheffizienten, strombasierten Heiztechnologie, eine wichtige Maßnahme.
Ein robustes Strommarktdesign ist nicht nur der Schlüssel zum Gelingen der Energiewende, sondern auch eine Grundlage für Versorgungssicherheit und erschwingliche Preise im gesamten EU-Energie-Binnenmarkt. Daher sollten die deutsche und alle nationalen Regierungen die mit der jüngsten Reform des EU-Strommarkts eingeführten neuen Bestimmungen zügig umsetzen, um langfristige Planungssicherheit zu schaffen und die notwendigen Investitionen freizusetzen.
Ein neuer Kapazitätsmarkt ist nötig, der Anreize für Speicherung und flexiblen Verbrauch bietet
Gleichzeitig brauchen wir Kapazitätsmechanismen, um das Energiesystem zu stützen. Durch einen Kapazitätsmarkt bekommen Erzeugungskapazitäten einen Preis und werden handelbar. So können je nach Bedarf die passenden Erzeugungskapazitäten mit den passenden Charakteristika am geeigneten Ort zur Verfügung gestellt werden. Das Gleiche sollte auch für Speicher und steuerbare Verbraucher gelten, die (einen Teil der) Last auf festgelegte Zeitpunkte verschieben. Wir müssen daher das Lastmanagement durch einen erneuerten Kapazitätsmarkt angehen, der insbesondere auch Anreize zur Speicherung und zum flexiblen Verbrauch bietet.
Angesichts des Ausstiegs aus der Kernenergie und der Kohleverstromung müssen für das Energiesystem kurzfristig neue Lieferanten zunächst für flüssiges Erdgas (LNG) und zunehmend für Wasserstoff gefunden werden. Unsere ehemalige Abhängigkeit insbesondere von den Nord-Stream-Pipelines sollte eine Mahnung bei der Suche nach nicht russischen Gaslieferanten sein. Wir sollten uns nicht auf einzelne Importwege festlegen und uns vertragliche Flexibilität sichern, um „Stranded Assets“ und die Risiken der Abhängigkeit von einem Lieferanten zu vermeiden. Autonomie darf also nicht mit Autarkie verwechselt werden.
Zusätzlich wird eine sichere Versorgung mit Rohstoffen für die Energiewende und für das Funktionieren unseres Binnenmarkts immer wichtiger. Daher ist es unerlässlich, auf EU-Ebene bilaterale Rohstoffpartnerschaften mit ausgewählten Ländern aufzubauen, die Nachhaltigkeitsmindeststandards (ESG) gewährleisten.
In dieser Hinsicht muss Europa allerdings deutlich mehr Pragmatismus zeigen. Es war ein großer Fehler, das Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) am „Chlorhuhn“ scheitern zu lassen. Anstatt daraus zu lernen, drohen jetzt sogar das EU-Kanada-Abkommen (Ceta) und das Abkommen der EU mit den Staaten des Mercosur an Themen zu scheitern, die für Europa am Ende materiell irrelevant sind.
Abschließend noch eine Anmerkung zur externen Dimension der Europäischen Union. Die EU wie auch die einzelnen Mitgliedstaaten sollten weiterhin weltweit in Energiepartnerschaften mit Drittländern investieren und ein noch systematischeres und koordiniertes Konzept verfolgen. Gerade Deutschland muss sein europapolitisches Gewicht nutzen, um nationale Alleingänge zu verhindern, sodass bei der Suche nach internationalen strategischen Partnerschaften ein echtes „Team Europa“ zusammenarbeitet, auch im unmittelbaren Interesse der deutschen Nachbarstaaten.
Alles in allem wird deutlich, dass die Energiesicherheit ein komplexes und vielfältiges System ist. Nur durch einen koordinierten und strategischen Ansatz auf europäischer Ebene werden wir in der Lage sein, wirksam auf die Herausforderungen der Energiewende zu reagieren.
Der Autor:
Leonhard Birnbaum ist CEO von Eon.



Dieser Text gehört zu einer Serie von Beiträgen deutscher Unternehmer zur Europawahl, die das Handelsblatt in Kooperation mit United Europe veröffentlicht.
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