Gastkommentar: Deutschland sollte sich auf KI-Grundlagenforschung konzentrieren
Kimi, Llama, Deepseek – alle paar Monate erscheint ein neues Sprachmodell - größer, schneller, besser in den Benchmarks. In Deutschland knüpften sich einst Hoffnungen, mit Aleph Alpha und einem „deutschen GPT“ in diesem Rennen mithalten zu können. Doch inzwischen ist klar: Im direkten Vergleich mit den großen US- und China-Labs ist man weit abgeschlagen.
Das ist jedoch kein Grund zur Resignation. Zum einen verlagert sich die Wertschöpfung in Sachen KI zunehmend in Richtung agentischer Systeme: Anwendungen, in denen KI-Modelle Datenquellen und Softwarefunktionen nutzen, um eigenständig Aktionen auszuführen. Wer clevere Ideen hat, so Routineaufgaben zu automatisieren oder neue Produkte zu entwickeln, kann hier auch von Deutschland aus vorne mitspielen.
Zum anderen hat die nächste Runde der Grundlagenforschung längst begonnen: spezialisierte Basismodelle für Felder jenseits von Sprache. Fragestellungen, die tiefes Expertenwissen erfordern, lassen sich nicht einfach mit der nächsten ChatGPT-Version beantworten – weil die nötigen Daten nicht im Netz liegen und weil es angepasste Methoden braucht, um sinnvolle Modelle zu trainieren.
KI-Grundlagenforschung statt Sprachmodellen
Sprachmodelle schöpfen aus dem Web – dem nahezu gesamten niedergeschriebenen Wissen der Menschheit. Für Biologie, Robotik oder Materialwissenschaften gibt es kein solches Reservoir. Die relevanten Daten liegen verstreut in Laboren, Fabriken und Kliniken.
Darum braucht es einen Mechanismus, diese Daten zum gemeinsamen Nutzen zusammenzuführen. Stellen wir uns ein Konsortium vor, das Daten treuhänderisch verwaltet, standardisiert und den Beteiligten für die Modellentwicklung zugänglich macht.
Das klingt nach einer Herkulesaufgabe – und ist es auch. Teilnehmer müssen sicher sein, dass sie mit ihren Daten nicht zugleich ihren Wettbewerbsvorteil preisgeben. Hinzu kommen praktische Hürden wie Formate, Standards und Datensicherheit – keineswegs trivial.
Doch gerade hier liegt die größte Chance. Wenn es gelingt, verstreute Datenquellen zu bündeln, entsteht ein einzigartiger Standortvorteil. Ein Pluspunkt für Deutschland: Die Industriekultur ist geprägt von Normen, Qualitätsstandards und Präzision.
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Diese Haltung spiegelt sich in den Daten wider – und hohe Datenqualität ist entscheidend, um verlässliche Modelle mit hoher Vorhersagekraft zu entwickeln.
Die Stärke liegt zudem in der Vielfalt. Je breiter und qualitativ hochwertiger die Datenbasis, desto besser können Modelle generalisieren.
Sprachmodelle sind stark, weil sie aus der Breite des gesamten menschlichen Wissens lernen. Basismodelle für andere Domänen könnten ebenso stark werden, wenn sie die Vielfalt realer industrieller und wissenschaftlicher Praxis abbilden.
Schafft Deutschland es, solch eine Datenbasis aufzubauen, kann es im globalen KI-Wettrennen nicht nur aufholen, sondern in Schlüsselbereichen selbst eine Führungsrolle übernehmen.
Investitionen in drei Bereiche lohnen sich besonders
Vor allem in drei Feldern kann Deutschland seine Forschungs- und Industriestruktur besonders gut nutzen: Materialwissenschaften, Robotik und Biologie.
Materialwissenschaften: Statt einer E-Mail-Antwort könnte ein KI-Modell „Rezepte“ für neue Werkstoffe liefern: leichter, besser recycelbar, günstiger – und dennoch belastbar genug für Windradflügel.
Auch neue Elektrolyte für leistungsfähigere Batterien ließen sich so schneller finden. KI-Basismodelle, trainiert auf Versuchsdaten, liefern in Stunden Ergebnisse, die sonst Jahre an Labortests erfordern.
Robotik: Autonomes Fahren ist nur der Anfang. In Lagerhäusern könnten Roboter eigenständig Routen optimieren, in Fabriken Montageschritte flexibel anpassen, bei Inspektionen unbekannte Fehlerbilder erkennen.
KI aus Bewegungs- und Sensordaten verleiht Maschinen einen technischen „Common Sense“ – weg von starren Routinen, hin zu verlässlichem Handeln in neuen Situationen.
Biologie: AlphaFold hat gezeigt, dass KI räumliche Proteinstrukturen berechnen kann – ein komplexes und fundamentales Problem, das Jahrzehnte unlösbar schien.
Ähnlich könnten Modelle künftig vorhersagen, wie Proteine mit Zellen interagieren, wie sich Medikamentierung effektiv personalisieren lässt oder wie wir unsere Darmflora verändern müssen, um chronische Krankheiten zu heilen. Teure, langwierige Versuchsreihen verschieben sich so hin zu schnelleren, zielgerichteten und damit besser vorhersagbaren Entwicklungen.
Der Nutzen liegt auf der Hand. In allen drei Bereichen geht es um Kernfragen deutscher Wettbewerbsfähigkeit – Umgang mit der Klimakrise, industrielle Produktivität trotz Fachkräftemangel und Entlastung des Gesundheitssystems in einer alternden Gesellschaft.
Gezielte KI-Investitionen können Forschung und Entwicklung extrem beschleunigen – und damit Wettbewerbsfähigkeit und Lebensqualität gleichermaßen erhöhen.
Der Autor: Benjamin Schröder ist CTO bei VODA.ai, einem KI-Anbieter für Versorgungsunternehmen, Berater und Angel-Investor.