Gastkommentar: Die Chemiebranche muss bei Nachhaltigkeit transparenter werden und mehr kooperieren

Sucheta Govil ist Chief Commercial Officer und Vorstandsmitglied von Covestro. Mercedes Alonso ist Executive Vice President des Geschäftsbereichs Erneuerbare Polymere und Chemikalien bei Neste, einem Hersteller von erneuerbaren Kraftstoffen und Rohstoffen für die Chemie- und Kunststoffindustrie.
Die Chemieindustrie ist im Umbruch. Die Transformation zur Kreislaufwirtschaft ist in aller Munde. Aber ist sie auch in vollem Gange? Die Klimaziele der Unternehmen sind vielversprechend.
Aber werden wir sie schnell genug erreichen? Klassischerweise orientiert sich unsere Wertschöpfung an zwei Fragen: Was braucht der Kunde, und wie kann ich es günstig anbieten? Dabei denken wir linear: Lieferant, eigenes Unternehmen, Kunde.
Der Kreislaufgedanke hingegen macht den Blick über den Tellerrand notwendig. Es ist plötzlich viel relevanter, woher Lieferanten Rohstoffe beziehen – und die Lieferanten der Lieferanten. Zudem ist plötzlich wichtig, was mit den Produkten der Kunden passiert.
Denn: Nachhaltigkeit wird über die gesamte Wertschöpfungskette transportiert. Rohstoffe ändern die Form, ihren CO2-Rucksack behalten sie. Es geht also darum, das „Nachhaltigkeitsversprechen“ über die gesamte Kette zu transportieren.
Sonst droht ein „Stille Post“-Effekt: Im Laufe der Kette entstehen Behauptungen, die nur noch bedingt mit der Realität zu tun haben. Das fördert die Gefahr von Greenwashing-Vorwürfen oder Umweltklagen: Bis heute wurden weltweit bereits über 2000 Umweltklagen eingereicht. Greenwashing ist im Fokus der Kläger und könnte für Unternehmen teuer werden.
Wettbewerb bleibt wichtig, aber wir müssen die „Jeder für sich“-Mentalität ablegen
Gleichzeitig kommen neue Produkteigenschaften hinzu: Unsichtbare Faktoren wie CO2-Emissionen gewinnen an Relevanz. Damit lässt sich Unfug anstellen, weil sie nur schwer überprüfbar sind.
Anfang 2023 wurden wir beim Thema CO2-Kompensation daran erinnert, als große Zweifel an den Berechnungen eines der größten Zertifizierer von CO2-Kompensationen aufkamen. Der Vorwurf: eine Lücke zwischen versprochenen und tatsächlichen Kompensationen.
Solche Vorwürfe schaden allen Beteiligten und kosten Glaubwürdigkeit. Ein Gegenmittel sind Transparenz und enge Zusammenarbeit. Es braucht ein Umdenken. Wir müssen alle Parteien im Kreislauf verstehen – ihre Ziele und Bedarfe. Positiv formuliert: Die Transformation verbindet Unternehmen und rückt sie stärker zusammen.
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Was heißt das konkret für das operative Geschäft? Es braucht mehr Vertrauen und Transparenz. Das klingt einfach, ist aber ein Paradigmenwechsel: Wir müssen eine etablierte „Jeder für sich“-Mentalität ablegen.
Wettbewerb bleibt wichtig – auch als Innovationstreiber. Das Kartellrecht bleibt unumstößlich, und Kooperationen mit Wettbewerbern müssen kartellrechtlich stets vorab geprüft werden – auch zum Schutz der Verbraucherinteressen. Aber Zusammenarbeit heißt manchmal auch „give to gain“ und fördert am Ende des Tages übergeordnete Nachhaltigkeitsziele.
Ein Beispiel dafür sind Joint Ventures, um neue Technologien voranzutreiben, auch wenn dann nur der halbe Gewinn winkt. Im Tausch profitieren beide Partner vom schnellen Hochlauf nachhaltiger Lösungen. Sehr erfolgreich setzt das die deutsche Energiebranche um: Sie stellt über Joint Ventures im Ausland in kurzer Zeit Wind- oder Solarparks auf die Beine.
Bislang gibt es nur kleine Projekte in der Kreislaufwirtschaft
Um bei der Kreislaufwirtschaft zu gewinnen, müssen wir uns mit Branchen auseinandersetzen, die weit weg vom eigenen Kerngeschäft scheinen, aber Teil des gleichen Kreislaufs sind: als Chemieindustrie etwa einen Schritt auf die Abfallwirtschaft zugehen, um Materialkreisläufe wirklich zu schließen.
Wer hätte gedacht, dass etwa Interzero als Umwelt- und Abfalldienstleister und der Altmöbelverwerter Eco-mobilier mal zur Lieferkette der Chemieindustrie gehören würden? Beide Unternehmen arbeiten daran, aus ausrangierten Gebrauchsgegenständen wie zum Beispiel Matratzen bestimmte Rohstoffe zurückzugewinnen. Die Rohstoffe wiederum nutzt die Chemiebranche.
Kooperationen dieser Art nehmen zu. Das macht Mut, die Projekte sind aber oft noch von überschaubarer Größe. Es sind erste zarte Pflänzchen einer Herangehensweise, die wir im großen Stil brauchen.
Das bedeutet Mehraufwand. Dabei verleiten Energiekrise und volatile Märkte dazu, in alte Muster zurückzufallen. In der Krise soll Altes bewahrt werden. Für die Transformation aber müssen wir Neues ausprobieren. Gerade aktuell bietet Zusammenarbeit aber weitere Vorteile.
Durch Zusammenarbeit lassen sich Risiken teilen und Best Practices austauschen. Kooperation bringt uns nicht nur der Kreislaufwirtschaft näher – sie bringt auch Vorteile beim Risikomanagement.
Die Transformation birgt nicht zuletzt eine Chance für die Chemie als Ganzes: Obwohl sie für viele Branchen von großer Bedeutung ist, ist ihr Image schlecht: energieintensiv, emissionsbelastet.
Die nachhaltige Transformation kann das ändern. Mehr Kooperation ist also aus vielen Gründen geboten – zur Verwirklichung der Kreislaufwirtschaft ist sie unabdingbar.
Die Autorinnen:


Sucheta Govil ist Chief Commercial Officer und Vorstandsmitglied von Covestro.
Mercedes Alonso ist Executive Vice President des Geschäftsbereichs Erneuerbare Polymere und Chemikalien bei Neste, einem Hersteller von erneuerbaren Kraftstoffen und Rohstoffen für die Chemie- und Kunststoffindustrie.
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