Gastkommentar: Europas Entwicklungshilfe braucht eine Neuausrichtung
Das wird besonders die EU unter Druck setzen. Es ist seit geraumer Zeit klar, dass die Europäische Union dringend neue Wege beschreiten und Industrie- und Handelskooperationen mit anderen Regionen der Welt eingehen muss. Abseits von den USA und China.
Der Mut, mit dem die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen nach Uruguay flog, um das Mercosur-Abkommen zu unterzeichnen – trotz des lautstarken Widerstands Frankreichs –, resultiert aus dieser Notwendigkeit. Dies ist ein bedeutender Schritt, er kommt zum richtigen Zeitpunkt.
Das Mercosur-Abkommen wird viele Lücken in den Wertschöpfungsketten füllen, und das ist eine Gelegenheit, die die EU nicht verpassen darf. Ein Freihandelsabkommen mit Indien sollte die nächste Priorität sein.
Allerdings reichen Handelsabkommen allein nicht aus. Die EU hat daher die Global Gateway Initiative aufgelegt, eine Strategie zum Bau neuer Infrastrukturvorhaben, etwa Straßen, Zugstrecken, Häfen und Datenkabel, die seit Langem in Arbeit ist.
Sie begann 2019 als die „EU-Asien-Konnektivitätsstrategie“ und wurde 2021 zu „Global Gateway“. Mittlerweile nähern wir uns dem Jahr 2025, und der neueste Slogan lautet: „Die EU wird Global Gateway nun vom Start-up zum Scale-up führen.“ Dieser Slogan beschreibt im Grunde sehr treffend das bisherige Scheitern. Denn wenn sich etwas nach sechs Jahren intensiver Arbeit und zwei Strategien immer noch im Start-up-Stadium befindet, ohne dass konkrete Projekte vorzuweisen wären, kann man nur schlussfolgern, dass es schlichtweg nicht funktioniert.
Global Gateway ist in seiner aktuellen Form ein verworrenes Konzept, das versucht, die Entwicklungshilfe-Agenda mit den diversen Anforderungen einer europäischen Wirtschaft und Industrie zu verknüpfen. Europas Hilfsphilosophie – im Gegensatz zu den USA und Japan – basiert strikt auf „unkonditionierter Hilfe“, was bedeutet, dass Hilfe und wirtschaftliche Interessen nahezu unvereinbar sind.
Dieses Denken passt nicht in eine Welt, in der der ökonomische und machtpolitische Wettbewerb an Schärfe gewinnt. Investitionen in den Aufbau der Infrastruktur für strategische Wertschöpfungsketten in Schwellenländern stellen eine externe Industriepolitik dar und können nicht durch Methoden aus der Entwicklungshilfe umgesetzt werden.
Was China besser macht
Die Belt and Road Initiative (BRI), auch Neue Seidenstraße genannt, der Chinesen ist das beste Beispiel dafür: Es handelt sich im Kern um eine Export- und Investitionsstrategie mit erheblicher geopolitischer Bonusrendite. Sie wird durch kommerzielle Kredite finanziert, deren Zinssätze zwischen 4,5 und sechs Prozent oder mehr liegen. Diese Projekte kombinieren in der Regel chinesische Finanzierung, chinesisches Projektmanagement, chinesische Arbeitskräfte, und sie verlangen Sicherheiten, die zu einer starken Abhängigkeit von China führen.
Die EU benötigt eine Kurskorrektur. Diese bietet sich mit dem anstehenden neuen Haushalt an, der letztlich der entscheidende Maßstab dafür sein wird, wie strategisch die EU tatsächlich ist – oder eben nicht.
Die aktuellen Zahlen sind verblüffend. Laut der OECD betragen die jährlichen Auszahlungen für die sogenannte offizielle Entwicklungshilfe – also Zuschüsse und zinsgünstige Kredite – unter den drei führenden globalen Wirtschaftsmächten 60 Milliarden Euro aus den USA, sieben Milliarden Euro aus China und 95 Millionen Euro aus dem EU-Raum (größtenteils aus Mitteln der Mitgliedstaaten, insbesondere aus Deutschland).
Die gemeinsame europäische Entwicklungshilfe erreicht das gleiche Niveau wie die chinesischen BRI-Investitionen. Der wirtschaftliche und geopolitische Nutzen für Europa ist im Vergleich zu Chinas Erträgen dagegen minimal.
Ein Politikwechsel ist nötig
Ein Rechenbeispiel: Wenn der EU-Raum beispielsweise 60 Milliarden Euro Entwicklungshilfe und 40 Milliarden Euro Exportkreditunterstützung bündeln und einen Fonds schaffen würde, mit dem private Investitionen im Verhältnis von 1:4 oder 1:5 generiert werden könnten, würde dies zu einem jährlichen Ertrag von 400 bis 500 Milliarden Euro führen. Innerhalb von zehn Jahren könnte dies Investitionen im Wert von vier bis fünf Billionen Euro ermöglichen.
Dies wäre ein echter Aufbruch. Natürlich ist es nicht leicht, Mathematik in die politische Praxis zu überführen. Aber sie kann als Denkanstoß dienen, um echte Veränderungen zu ermöglichen. Der Impuls nun muss von den Mitgliedstaaten im Europäischen Rat ausgehen.
Sie sind die entscheidenden Geldgeber, sie sind die zentralen Akteure in der Industriepolitik. Wirkliche Veränderungen in der strategischen Aufstellung Europas können nur aus ihrem kollektiven Willen heraus umgesetzt werden.
Die Autorin Romana Vlahutin arbeitet für den German Marshall Fund und war Sonderbotschafterin des Europäischen Auswärtigen Dienstes.
Erstpublikation: 25.12.2024, 10:12 Uhr